Schattenherz
und aus dem Wasser hob, um sie schließlich in die Tiefe zu schleudern.«
Sie hatte die Beschreibung stets für eine Ausgeburt der Phantasie gehalten. Sie hatte große Graaks im Flug gesehen, und niemals hatte der Sog ihres Flügelschlags etwas der Beschreibung in dem alten Buch Vergleichbares bewirkt. Das Wesen jedoch, das sie jetzt heimsuchte, hatte eine übernatürliche Gewalt über den Wind. Die Luft bewegte sich unter seinen Schwingen wie eine Verlängerung seines Körpers.
In diesem Augenblick stieß ihre Days einen Schrei aus, aus dem unbändiges Entsetzen sprach und der in dem Sturm fast unterging. Vor Erins Augen traf ein gewaltiger Stamm – eine von allem Geäst befreite Fichte – die Frau mitten in den Leib, pfählte sie und schoß glatt durch sie hindurch wie ein Pfeil.
Blut und Eingeweide traten hervor. Dann riß der Wind den Kadaver und das Pferd der Days volle einhundert Fuß hoch in die Luft, bis beide schließlich Hals über Kopf im undurchdringlichen Knäuel aus Dunkelheit verschwanden.
Erin hatte ihre Days nie gemocht, hatte nie wirklich Zugang zu der Frau gefunden. Die einzig nette Geste, die Erin ihr je hatte zuteil werden lassen, hatte darin bestanden, ihr bei den wenigen Gelegenheiten, an denen sie sich wegen einer Erkältung krank gemeldet hatte, Tee zu kochen. Der Anblick dieser Frau jedoch, durchbohrt und vollkommen zerfetzt, erfüllte sie mit Entsetzen.
Celinors Days erreichte den Straßenrand. Sein Pferd kam nur mühsam voran, da seine Hinterbeine plötzlich vom Wind nach hinten gerissen wurden. Das Tier schrie, als der Glorreiche der Finsternis es plötzlich in die brodelnde Masse hineinsog. Erin vermied es hinzusehen.
Die Wand aus Wind raste auf sie zu. Erin drehte sich genau im selben Augenblick um, als ihr Pferd hart in einer sandgefüllten, kleinen Senke landete. Ein ausgetrockneter Bachlauf bahnte sich hier schlängelnd seinen Weg. Die Bäume ringsum waren hoch. Celinor hatte sein Pferd herumgerissen und galoppierte durch das ausgetrocknete Bachbett, um sich in Sicherheit zu bringen, floh vor dem Knäuel aus Dunkelheit, das ihn verfolgte, hielt auf eine Reihe hoher Fichten zu, die sich vor ihnen auftat wie ein düsterer Tunnel. Er floh vor dem Wind, vor der Finsternis.
Plötzlich umwirbelten sie Laub und trockene Gräser. Erin bohrte ihre Fersen in die Muskeln ihres Pferdes und spürte, wie der Wind an ihrem Umhang zerrte. Sie blickte sich um.
Kein Dutzend Meter hinter ihr heulte der Wind wie eine Bestie, und sie starrte in die Finsternis, die ihr wie ein düsterer Schacht erschien. Bäume stürzten mit lautem Krachen zu beiden Seiten von ihr um. Die Dunkelheit, die hinter alledem gähnte, glich einem gewaltigen Schlund, der sie zu verschlingen suchte. Ein langer Pfahl schoß aus der Dunkelheit hervor und traf sie ins Kreuz wie eine Lanze. Er prallte mit heftigem Krachen auf ihre Rüstung, zersplitterte beim Aufprall und stieß Erin nach vorn.
Sie erreichte die Fichtenreihe. Celinor hatte sein Pferd unmittelbar innerhalb ihrer Zufluchtsstätte zum Stehen gebracht. Weiter vorn war der Bach vor einiger Zeit über die Ufer getreten, und ein gewaltiges Gewirr aus Baumstämmen versperrte den Durchlaß.
»Versteckt Euch!« schrie Gaborns Stimme in ihrem Verstand.
Erin lief zu Celinor hinüber. Der Wind trug sie halb zu ihm.
Sie stieß ihn von seinem Pferd und duckte sich unter einen umgestürzten Baum, unter ein Gewirr von Stämmen.
Hinter sich hörte sie das angsterfüllte Wiehern der Pferde, wagte jedoch nicht, einen Blick nach hinten zu riskieren.
Statt dessen krabbelte sie, umgeben vom Heulen und Tosen des Windes, unter den Baumstammhaufen. Bäume knickten ab, Äste splitterten. Eine Fichte kippte um und fiel krachend in den Holzstoß über ihr, als hätte der Glorreiche der Finsternis die Absicht, sie alle zu zermalmen. Es roch stark nach Harz und Fichtenreisig. Die Äste verbargen sie, als sich die Dunkelheit herabsenkte.
Rings um ihr kleines Versteck toste das Unwetter. Selbst hier, selbst unter den umgestürzten Bäumen, riß der Wind die Rinde von den alten Stämmen und trieb schwerfällig rollende Steine vor sich her durch das Flußbett.
Celinor schlang die Arme um Erin, umklammerte sie,
versuchte, sie mit seinem Körper zu schützen. In der völligen Finsternis hatte sie das Gefühl, von ihm erdrückt zu werden.
Trotzdem hatte sie Angst, ihn loszulassen.
»Bleibt unten!« schrie er.
Jetzt verstand sie, wieso Gaborn sie gewarnt hatte. Die Macht des
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