Schattenjagd

verrechnet.
    Aber bist du damit nicht genauso wie sie, Jill? Hm? Du entscheidest, wer lebt und wer stirbt? Richter, Geschworener, Henker?
    Die Narbe wurde so heiß, dass es kaum mehr auszuhalten war. Qualen durchpflügten meinen Arm wie ein großer goldener Nagel aus Glas. Ein roher, heiserer, gepeinigter Schmerzensschrei brach aus mir hervor, ähnlich dem des sterbenden Wendigos. Hatte ich nicht auch ihn auf dem Gewissen? Dass Saul den Speer in den Händen gehalten hatte, spielte keine Rolle. Ich hatte diesen Tod verursacht.
    Aber wer war ich, solche Urteile zu fällen?
    Ich bin das Gesetz, gottverflucht! Ich schütze sie, die Unschuldigen. Ich bin das Schwert der Gerechtigkeit.
    Doch hatte nicht auch ich gemordet? Elf Zuhälter. Elf Männer, und dabei spielte es keine Rolle, dass ich so die notwendigen Informationen bekommen hatte. Es spielte keine Rolle, dass die Welt ohne sie besser dran war.
    Wenn einer fällt, nimmt der nächste seinen Platz ein, Dummkopf. Die Welt ist ohne sie nicht besser dran. Andere werden nachrücken.
    Aber mit jedem getöteten Zuhälter verschaffte ich einer Bordsteinschwalbe ein bisschen Zeit zum Durchschnaufen. Nicht viel und nicht genug – aber ein bisschen.
    Das war es wert.
    Ich sackte auf dem kalten unnachgiebigen Lavagestein des Altars zusammen. Ketten schepperten. An der Decke verdrehten und wanden sich die goldenen Zeichen wie verrückt, während das schwarze, knisternde Leuchten chaldäischer Magie durch sie hindurchrann.
    Wieder dieser gurgelnde Laut. Und sofort packte mich das schlechte Gewissen, ich fühlte mich widerlich schuldig. Ich war ihnen geradewegs in die Falle gegangen, und nun mussten Menschen dafür mit ihrem Leben bezahlen. Unschuldige Menschen.
    Ich reckte den Kopf und presste das Kinn gegen die Brust, um hinzusehen.
    Schwarze Blitze fraßen den gesamten Körper des Opfers regelrecht auf, nachdem der letzte Tropfen Blut versiegt war. Wo eben noch eine blasse menschliche Gestalt, umhüllt von schwarzen Flammen, gelegen hatte, war im nächsten Moment nichts mehr zu sehen. Die konzentrierte Todesenergie, die mein blaues Auge sichtbar machte, war bereits eingefangen und mit der übrigen vermengt. Die Seele hatte sich losgerissen und war verschwunden, nachdem die ätherischen Stränge, die sie an den Körper gebunden hatten, durchtrennt waren. Wie mit einem sauberen Schnitt. Die älteren Leichen hatten keinerlei Anzeichen für diesen Raub erkennen lassen – die Brutalität und der Gestank des Wendigos hatten alle anderen Spuren überlagert. Wie viele mochten es gewesen sein? Wie viel Tod trug die bluthaarige Schlampe in sich?
    Kein Wunder, dass sie völlig verrückt ist, fuhr es mir wie ein Schwall kalten Wassers durch den Kopf.
    Schon schleppten sie die nächste narkotisierte nackte Frau an, und mir wurde schlagartig eiskalt. Reines, durchscheinendes, herrliches Eis fuhr in mich, und mit einem Klick löste ich mich abermals, hob ab. Wurde zu dieser anderen Person, zu der Jill Kismet, die wie ein Todesengel von Tür zu Tür gehen und nach Belieben zuschlagen konnte.
    Das Mädchen hatte eine lange sandfarbene Mähne und war völlig weggetreten. Sie wehrte sich nicht einmal. Doch plötzlich war es nicht länger sie, die ich da sah, sondern eine andere: ein junges Ding mit langen braunen Haaren, das Gesicht über und über voller dunkler Prellungen, genauso wie die dünnen Knöchel. Sie zuckte zusammen, als ich schrie.
    Großer Gott. Ich wusste, dass es nicht Cecilia war, sie war bei Avery. Zumindest hoffte ich das.
    Aber gottverflucht, das Licht war schummrig, und als ich den schlaffen Körper betrachtete, den sie auf den Opferaltar legten, sah ich deutlich Cecilias Gesicht. Das Antlitz einer ausgebrannten, jungen Prostituierten, die einmal ein kluges kleines Mädchen gewesen war, das sich nach Zuneigung sehnte und aus der elterlichen Hölle geflüchtet war, nur um im Fegefeuer zu landen. Draußen in der kalten Welt, auf Rücksitzen und Hotelzimmern, an Wänden und überall, wo man dunkle Ecken finden konnte. Und manchmal sogar in hellem Tageslicht.
    Und unter Cecilias Zügen sah ich ein weiteres Gesicht. Schwarze Haare, braune Augen, überdurchschnittlich intelligent, aber eindeutig zu schnell erwachsen geworden.
    Sie ist tot, Jill. Nur du hast überlebt. Sie ist zur Hölle gefahren, und du bist zurückgekehrt.
    Ich bäumte mich auf, aber leise. Zog. Zog mit aller Kraft.
    Stemmte mich gegen die Ketten, presste den Atem aus meinen Lungen, jede Faser meines Körpers