Schattenjahre (German Edition)
vergessen hatte. Verzweifelt rangen ihre Lungen nach Luft.
Entschlossen, ihre Verwirrung auszunutzen, gab er seinen Worten einen traurigen, bedauernden Klang. „Wie schön wäre das … Aber ich kann es nicht tun. Dieser Krieg muss gewonnen werden.“ Energisch hob er das Kinn. Wie er schon zu Beginn der Kämpfe festgestellt hatte, gab es etwas, das die Frauen fast noch tiefer beeindruckte als eine Liebeserklärung. Sie wussten es sehr zu schätzen, wenn man sich als Ehrenmann präsentierte, der das Wohl des Vaterlands vor persönliche Interessen stellte. Dieses Mädchen schien keine Ausnahme zu bilden.
Lizzie seufzte bedrückt. Bald würden sie wieder getrennte Wege gehen. Und sie würde ihn zweifellos nie wiedersehen, trotz allem, was er gesagt hatte. In ihrer Brust breitete sich ein brennender Schmerz aus. „Lassen Sie mich hier aussteigen“, bat sie, als sie auf das Tor des Krankenhauses zufuhren. Die Oberschwester legte Wert darauf, dass die Mädchen Distanz zu den Patienten und deren Besuchern hielten.
„Fraternisieren ist wohl verboten, was?“, erriet er und trat sofort auf die Bremse.
Sie konnte die Tür nicht öffnen und beobachtete atemlos, wie er aus dem Auto sprang und auf ihre Seite lief. Und dann öffnete er ihr nicht nur den Wagenschlag, er beugte sich zu ihr, um sie herauszuheben. Für einen kurzen, betörenden Moment drückte er sie an seine Brust. Ihr ganzer Körper spannte sich an, während er sie langsam auf die Füße stellte, auf ihren Mund schaute und flüsterte: „Was für ein winziges Ding du bist – genau richtig, um in die Arme eines Mannes zu passen. Und diese Lippen – wie geschaffen zum Küssen! Wurdest du schon einmal von einem Mann geküsst, Süße? Oder hast du dich für mich aufbewahrt?“
Ihr Herz klopfte so laut, dass sie seine Worte kaum hörte. Nebelschleier schienen vor ihren Augen zu tanzen, aber gleichzeitig sah sie alles ringsum ganz klar und deutlich, als würde sie die Welt mit neuen Augen betrachten.
„Du weißt doch, was mit uns geschieht?“, drängte er. „Du weißt, dass wir beide …“ Abrupt verstummte er, und seine Hände umklammerten ihre Oberarme fast schmerzhaft. „Ich muss dich wiedersehen. Wann hast du Zeit?“
Wann? Sie kämpfte mit sich, um ihren Verstand zu retten, aber der wurde offenbar davongeweht, besaß keine Macht mehr über ihre Entscheidungen. Viel mächtiger war dieses berauschende Gefühl, auf Wolken zu schweben, endlich das wahre Leben kennenzulernen. Zweifellos war sie dem Mann begegnet, der alles verkörperte, was sie in ihren Tagträumen ersehnt hatte. Das musste es sein, was man Liebe auf den ersten Blick nennt.
„Nach – dem Lunch“, hörte sie sich mit einer seltsam fremdartigen Stimme erwidern. „Eigentlich sollte ich meiner Tante schreiben. Das tue ich jede Woche. Sie kann meine Briefe nur selten beantworten, weil sie Arthritis hat.“
„Um halb drei hole ich dich hier ab“, kündigte er an und ignorierte ihre halb erstickten Einwände.Seine Lippen streiften ihre – nur ganz leicht. Ein anderes Mädchen hätte eine Provokation in dieser zarten Berührung gesehen. Aber Lizzie erschien sie wie eine Geste tiefer Verehrung und Hochachtung. Welch ein sanfter, keuscher Kuss … Das erinnerte sie an ihre Romanhelden, die es kaum wagten, die Angebeteten mit männlicher Fleischeslust zu besudeln, die deren Reinheit würdigten, obwohl sie sich in heißer Leidenschaft verzehrten.
Sie wusste nichts von der nüchternen Realität, von der Selbstverständlichkeit, mit der Männer wie Kit Danvers weibliche Hingabe beanspruchten, das Recht auf flüchtigen Sex, das ihnen zustand, nachdem sie täglich und stündlich dem Tod ins Auge blickten.
„Und – meine Süße …“ Stumm und bewundernd schaute sie zu ihm auf, und er berührte ihre Zopfkrone. „Trag dein Haar offen. Und zieh was Nettes an. Ich mag es, wenn meine Mädchen hübsch aussehen …“
Sekundenlang schien eine Wolke die Sonne zu verdunkeln und plötzlich Kälte zu verbreiten. Seine Mädchen, hatte er gesagt. Lizzie runzelte die Stirn. Die harte Wirklichkeit drohte ihren Traum zu zerstören. Aber da strich er über ihre Wange und verscheuchte alle Wolken.
Während sie wartete, bis er ihr Fahrrad losschnallte, wünschte sie, es wäre schon halb drei. Noch so viele lange Stunden bis zum Wiedersehen – Stunden, wo sie fürchten würde, er könnte sich anders besinnen, einem hübscheren Mädchen sein Lächeln schenken. Obwohl es ihr nicht bewusst war, hatte sie
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