Schattenjahre (German Edition)
Kampf weiterzuführen. Um ihr diese Zeit zu verschaffen, sehe ich nur eine einzige Möglichkeit. Ich mache dir einen Vorschlag. Gib das Projekt auf, und ich informiere niemanden über diesen Landkauf.“
Verächtlich verzog sie die Lippen. „Wenn ich Stillschweigen bewahre, heißt das natürlich keineswegs, ich würde dein Vorgehen billigen. Ich finde es abscheulich …“ Abrupt verstummtesie, denn sie merkte, dass ihr Körper ebenso zitterte wie ihre Stimme. Außer kühlem Gleichmut las sie nichts in Daniels Gesicht.
„Du willst mich also erpressen?“, fragte er.
Erpressen … Das Wort drehte ihr den Magen um, gab ihr das Gefühl, sie hätte sich irgendwie beschmutzt. „Nenn es Erpressung, wenn du willst“, erwiderte sie herablassend. „Ich sehe darin einen Versuch, alle Vorteile zu nutzen, die sich mir bieten. Und ich bin es nicht, der einer kranken alten Frau versprochen hat, ihren Familiensitz zu erhalten, zu renovieren und darin zu wohnen.“
„Nein, das bist du nicht.“ Er stand so plötzlich auf, dass sie verwirrt zusammenzuckte, kam zu ihr, und sie schreckte instinktiv zurück. Lächelnd beobachtete er ihre Reaktion.
Zum Teufel mit diesem Kerl, dachte sie. Was bildet er sich eigentlich ein? Ich bin keine gebrechliche alte Dame, die man übers Ohr hauen kann … „Nun?“, fragte sie aggressiv.
„Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.“
Sage runzelte die Stirn. Das hatte sie nicht erwartet, sondern ein sofortiges Ja oder Nein, einen Wutausbruch, eine brutale Beschuldigung, vielleicht sogar Tätlichkeiten oder zumindest deren Androhung – aber nicht diese kaltschnäuzige Forderung nach einem Aufschub. Wachsam beobachtete sie ihn. „Wie lange?“
„In zwei Tagen bekommst du meine Antwort.“
Sie wollte ihn zu einer sofortigen Entscheidung drängen, doch irgendetwas hielt sie zurück! Ein Instinkt bewog sie, schweigend zu nicken, seine Bedingung voller Bitterkeit zu akzeptieren. Auf unheimliche, subtile Art war es ihm geglückt, ihr die Kontrolle der Situation zu entziehen.
Gern hätte sie die nötige Arroganz aufgebracht, um nach Jenny zu klingeln und sie zu bitten, den Besucher hinauszubegleiten. Aber das konnte sie nicht. Außerdem traute sie ihm durchaus zu, das Erscheinen der Haushälterin gar nicht abzuwarten und allein zu gehen. Und nicht zuletzt hätte eine solche Handlungsweise gegen alles verstoßen, was die Mutter sie gelehrt hatte. Und so seltsam es ihr auch vorkam, ausgerechnet in diesem Augenblick vermochte sie die mühsam eingetrichterten Benimmregeln nicht zu kontrollieren. Also führte sie Daniel zur Haustür, wobei sie sich ziemlich albern fühlte, öffnete und sagte kurz angebunden: „Zwei Tage. Danach wende ich mich an die Presse.“
„Zwei Tage.“ Er stand auf einer Eingangsstufe unterhalb von Sage, die Augenpaare befanden sich in gleicher Höhe. Im Konversationston fragte er: „Übrigens, hast du in letzter Zeit was von Scott gehört? Im Lauf dieses Jahres muss ich aus geschäftlichen Gründen nach Australien fliegen. Vielleicht werde ich ihn besuchen. Wir schreiben uns immer noch zu Weihnachten. Seinen ältesten Sohn hat er nach mir genannt.“
Ihr Atem quoll in kleinen, schmerzhaften Stößen aus den Lungen, wie Blut aus einer tiefen Wunde. Als er davonging, stand sie reglos auf der Schwelle und hoffte inständig, er würde sich nicht umdrehen, die Tränen nicht sehen, die wie Säure hinter ihren Lidern brannten.
Scott – Scott – ein Teil von ihr trauerte immer noch um ihn, weigerte sich nach wie vor, die Trennung hinzunehmen. Sie begehrte ihn nicht mehr, hatte schon vor Jahren aufgehört, ihn zu begehren – genau genommen während jener Nacht in Daniels Haus. Aber sie brauchte ihn immer noch und spürte, dass sie mit ihm auch einen Teil von sich selbst verloren hatte und ohne ihn unvollkommen war.
Niemals würde die Wunde des Verlustes vollends heilen. Das verheimlichte sie allen, die sie kannten. Und doch gab es einen Mann, der sie überhaupt nicht kannte – und trotzdem gut genug, um zu wissen, mit welchen beiläufig hingeworfenen Worten er sie an ihrer empfindlichsten Stelle treffen konnte. Diesem Mann war es gelungen, eines ihrer intimsten Geheimnisse zu enthüllen. Mit zitternden Beinen kehrte sie in die Bibliothek zurück. Welche anderen Geheimnisse hatte er sonst noch erraten? Welche Schwachpunkte hatte sie versehentlich bloßgelegt?
18. KAPITEL
Sage fuhr aus dem Schlaf hoch. Echos ihres Albtraums klammerten sich immer noch an ihr Gehirn
Weitere Kostenlose Bücher