Schattenjahre (German Edition)
wie klebrige Nebelschleier und behinderten ihre Gedanken, obwohl ihr Bewusstsein die Realität erkannte.
Sie hatte von der Kindheit geträumt, von ihrem Vater, von dem Wunsch, ihm nahezustehen, so akzeptiert und geliebt zu werden wie David. Die blinde wütende Eifersucht, die sie in jenen Jahren so qualvoll empfunden und unter der strengen Kontrolle ihrer Mutter niemals in Worte hatte fassen dürfen, kannte im Schlaf keine Barrieren. Aber es war keine Genugtuung gewesen, keine Erleichterung, diesen Emotionen freien Lauf zu lassen. Nein, im Traum fühlte sie sich elend, als sie vor ihrem Vater stand und in sein hochmütiges, reserviertes Gesicht blickte und erkannte, dass zu seiner Abneigung gegen sie nun auch noch Verachtung und Missbilligung kamen.
Warum liebte er sie nicht so wie den Sohn? Weil sie ein Mädchen war? Früher hatte sie das vermutet und sich an diesen Glauben geklammert, weil es ihr leichter gefallen war, wegen ihres Geschlechts abgelehnt zu werden, nicht wegen eines individuellen Charakterfehlers.
Nun berührte sie ihre Wange, und es überraschte sie nicht, Tränen zu spüren. Sekundenlang schloss sie die Augen und versuchte die Last des bösen Traumes abzuschütteln. Und sie bemühte sich, den schockierenden Moment der Wahrheit zu ignorieren, als sie in den Augen des Vaters unverhohlene Antipathie gelesen hatte, als sein Gesicht plötzlich mit den Schatten verschmolzen war, um dann zurückzukehren und Daniels Züge zu tragen, erfüllt von der gleichen Abneigung und Verachtung.
Daniel … Was sollte sie tun, wenn er nicht auf ihren Vorschlag einging? Würde sie ihn der Presse ausliefern? Konnte sie das? Er würde es verdienen. Schaudernd setzte sie sich im Bett auf, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Selbst wenn er das Projekt aufgab, würde eine andere Firma an seine Stelle treten. Für immer konnte sie den Bau der neuen Straße nicht stoppen. Würde die Zeit, die sie zu gewinnen suchte, für die Genesung ihrer Mutter genügen?
Sage strich durch ihr dichtes Haar. Körperlich fühlte sie sich kraftlos, aber ihr Gehirn lief auf Hochtouren. Wirre, fieberhafte Gedanken überschlugen sich. Sie brauchte keinen Psychiater, um zu wissen, dass ihr Albtraum auf ihren Selbstzweifeln beruhte, auf ihrer Unsicherheit, ihren Ängsten. Aber sie begriff nicht, warum Daniel Cavanagh im Mittelpunkt dieser Ängste stand. Oder wollte sie es nicht begreifen?
Er war schon immer stark gewesen, der Typ, den sie in jüngeren Jahren gemieden hatte, aus Furcht vor der eigenen Reaktion auf diese Art von Sexualität. Er gehörte zu den Männern, die ihr sexuelles Charisma benutzten, die Frauen instinktiv und automatisch zu unterwerfen. Aus irgendeinem Grund hatte sie schon damals gespürt, wie anfällig sie für eine solch intensive Beziehung war. Etwas in ihr drängte sie geradezu, sich von Daniels sinnlicher Macht mitreißen und verschlingen zu lassen, darin zu versinken, ihre Unabhängigkeit aufzugeben, ihren Willen, alles, worum sie ihr Leben lang gekämpft hatte.
Wie ein geistloses Tier war sie fasziniert gewesen von der Gefahr des Feuers, von Hitze und Licht. Aber sie wusste trotzdem, dass sie sich nicht zu nahe an die Flammen heranwagen durfte, die sie sonst zerstören könnten. Sie hasste die Macht, die das Feuer auf sie ausübte, hasste sich selbst, hasste Daniel. Denn trotz ihrer reinen, unschuldigen Liebe zu Scott erkannte sie eine dunklere Seite ihres Wesens, die allmählich Kräfte sammelte, sich von Daniels männlicher Ausstrahlung angezogen fühlte. Solche Gefühle vermochte Scott nicht zu wecken. Nur Daniel besaß die Fähigkeit, diesen verborgenen Teil ihres Innern zu berühren, den sie sorgsam vor anderen und sich selbst verschloss.
Damals in Alcester hatte sie ihre eigene Sinnlichkeit gefürchtet und mit der kühlen Reinheit ihrer Mutter verglichen, mit der idyllischen, romantischen Liebe zwischen Faye und David. Nach solchen Gefühlen sehnte sie sich, konnte sie aber nicht empfinden. Und in ihrer verhassten Sexualität sah sie den Mittelpunkt ihrer fehlerhaften Persönlichkeit. Mit ihrer wachsenden Reife – die sich immer noch zu sehr an die Kindheit klammerte, um völlig objektiv zu urteilen –, erkannte sie, dass ihre Erotik sie gefährdete, verwundbar machte, emotionalem und physischem Missbrauch auslieferte. Sie war anders als ihre Familie. Die tiefen, dunklen Wellen, die sie durchströmten, erschienen ihr wie ein zerstörerischer Fluch, der aus irgendwelchen Urzeiten stammte und
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