Schattenjahre (German Edition)
Sicher, die einst so imposanten Sturmwolken hatten ein einförmiges Bleigrau angenommen, an manchen Stellen blätterte die Farbe ab. Zeus’ einst so stolze Gesichtszüge wirkten verblichen. Inzwischen war Sage in Italien gewesen und hatte Michelangelos atemberaubende Sixtinische Kapelle besucht. Aber wenn man wiedersieht, was einen fürs Leben geprägt hat, gleicht das einer neuen Begegnung mit dem ersten Liebhaber. So etwas vergisst man nie, erinnert sich immer liebevoll daran, bewahrt es im Herzen.
Ihrer Ehrfurcht beim ersten Anblick dieses Gemäldes, bei der Erkenntnis, dass jemand wirklich und wahrhaftig Zeus und seine Wolken auf die Decke einer Halle gemalt hatte, entsann sich Sage gern – ihres ersten Liebhabers nicht. Sie schluckte, und das Bild verschwamm vor ihren Augen, während sie mit ihren Gefühlen kämpfte. Langsam stieg sie die Stufen hinauf, konzentrierte sich auf jeden einzelnen Schritt, um ihre Gedanken zu verdrängen.
Im ersten Stock lag eine ovale Galerie, ein Korridor führte zu den Schlafzimmern, der sich im zweiten Stock wiederholte. In der ersten Etage blieb Sage stehen und bemerkte, wie viel von der Balustrade fehlte, wie gefährlich morsch die Bodenbretter waren, von Staub und Mörtelbrocken bedeckt. So vorsichtig sie auch auftrat, sie wirbelte immer wieder weiße Wolken auf, die in ihrer Kehle kratzten. Je näher sie zu dem Deckengemälde kam, desto deutlicher war sein Verfall zu erkennen. In dünnen Schichten löste sich die Farbe. Daniel würde nichts tun müssen, um Zeus zu vernichten – diese Arbeit hatten ihm die Zeit und jahrelange Vernachlässigung abgenommen.
Tränen brannten in ihren Augen. Plötzlich wollte sie nur noch fliehen aus diesem Haus und seiner öden Leere. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe hinab. Wenige Stufen über dem Hallenboden blieb sie abrupt stehen und schnappte nach Luft, als sie Daniel Cavanagh beim Eingang stehen sah. Mit ausdruckslosen Augen beobachtete er sie.
„Was machst du hier?“, fragte sie aggressiv, um ihren Schrecken zu überspielen.
„Nun, ich bin jedenfalls kein unbefugter Eindringling“, erwiderte er seelenruhig.
Sie starrte ihn an; wie ein kleines Mädchen errötete sie schuldbewusst. Er kam auf sie zu, und sie trat instinktiv einen Schritt zurück. Dabei stieg sie auf ein herabgefallenes Mörtelstück und verlor das Gleichgewicht. Sie hörte Daniels Warnruf, und während sie stolperte, suchte sie Halt am Geländer, griff aber daneben. Nichts konnte ihren Fall bremsen, und sie stürzte zum Marmorboden hinab.
In Sages Ohren gellte ihr eigener Schrei. Automatisch schloss sie die Augen. Sie spannte ihren Körper an, um ihn gegen den Aufprall zu wappnen.
Aber statt auf dem Marmor zu landen, wurde sie von harten Fingern gepackt, hörte, wie die Luft aus Daniels Brust wich, als sie dagegenflog und seine Arme sie umklammerten, hörte ihn mit dem letzten Rest seines Atemvorrats fluchen. Dann zerrte er sie aus dem herabrieselnden Mörtelregen. „Du kleine Närrin! Konntest du denn nicht sehen, wie baufällig diese Treppe ist?“, schimpfte er.
Nur um Haaresbreite war sie einer schweren Verletzung entronnen, und diese grausige Erkenntnis weckte ein heftiges Schwindelgefühl. „Sicher wirst du behaupten, das ganze Haus sei nur noch eine Ruine, bevor du es dem Erdboden gleichmachst“, fauchte sie.
Ihr Atem stockte, als er sie hochhob und kräftig schüttelte. „Du verstehst wohl überhaupt nichts, du dummes Ding! Beinahe wärst du gestorben!“
Das wusste sie bereits, und beim Gedanken an ihren Sturz spürte sie, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Aber sie bekämpfte die Nachwirkungen ihres Schocks und erwiderte spöttisch: „Na und? Dann wärst du doch aus dem Schneider. Schade, dass dir das nicht eingefallen ist, bevor du den edlen Ritter gespielt hast.“
„Mein Gott …“
Seine Finger gruben sich trotz des schützenden Pullovers schmerzhaft in ihre Taille. Sie fühlte sich schwach und völlig hilflos. Etwas Feuchtes, Warmes klebte an ihrem Gesicht, sie berührte es, sah Blut an ihrer Hand.
„Es ist nicht schlimm.“ Daniel stellte sie auf die Füße, ohne sie loszulassen. „Nur ein Kratzer.“ Als er über ihre Wange streicheln wollte, drehte sie ruckartig den Kopf zur Seite. Staub bedeckte ihre Haut, und mit dem Pferdeschwanz erschien sie ihm so jung wie bei der ersten Begegnung. Emotionen, die er längst für überwunden hielt, stiegen wieder in ihm auf. Sie könnte jetzt tot sein, auf dem Marmorboden
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