Schattenjahre (German Edition)
liegen, das Gesicht so bleich wie in jener Nacht, wo sie zu ihm gekommen war …
Seine Nähe beunruhigte Sage, weckte zu viele Erinnerungen. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um sich nicht an ihn zu lehnen.
„Du musst immer kämpfen, was?“, hörte sie ihn herausfordernd fragen. „Stets musst du beweisen, wie stark du bist, wie unabhängig und unverwundbar, und das genießt du. Es macht dir Spaß, über deine Mitmenschen zu triumphieren. Weißt du, wie dich die armen Kerle nennen, wenn sie’s endlich geschafft haben, aus deinem Bett zu kriechen? Einen männermordenden Vamp, zerstörerisch wie die Hölle.“
Sage wurde abwechselnd rot und blass. Warum taten ihr seine Worte weh? Warum kümmerte es sie, was er von ihr dachte? Sie wusste es nicht, wusste nur eins – sie musste Vergeltung üben und Daniel genauso grausam verletzen. Sie versuchte sich loszureißen, und als es ihr misslang, bemerkte sie bitter: „Dann ist es ja gut, dass du mich vor all den Jahren abgewiesen hast. Ein Mann wie du muss seinen kostbaren Machismo schützen.“
„Ein Mann wie ich?“, wiederholte er wütend. „Du kennst mich überhaupt nicht.“
„Und du mich auch nicht.“
„Nein? Aber ich kenne deine Wünsche.“
Nicht zum ersten Mal wurde sie voller Zorn geküsst. Oft hatte sie diese Art von Zorn absichtlich provoziert und sich an der sexuellen Macht gefreut, die sie dadurch erhielt. Aber diesmal war es anders. Alle Erfahrungen, die ihr geholfen hätten, die Situation zu meistern, schwanden aus ihrem Gedächtnis. Sie konnte sich nicht rühren in Daniels Armen, war seinem Mund hilflos ausgeliefert, unfähig, diesem schmerzhaften Druck auszuweichen. Ihre Lippen erschienen ihr so verwundbar, als hätten sie zuvor nur Küsse ohne sexuelle Intimität gekannt.
Ihr Körper wurde von einer seltsamen Lähmung befallen, die von einem Schock stammen musste. Der Schock des mit knapper Not verhinderten Unfalls, der Schock von Daniels Gegenwart – und jetzt dieser brutale strafende Kuss … Dieser Kuss wischte alle Jahre weg, die zwischen ihnen lagen, entführte sie in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, wo sie das wilde Drängen dieses harten Mundes begrüßt hätte.
Plötzlich fiel die Erstarrung von ihr ab. Erbost biss sie in Daniels Lippen, und zu ihrem Entsetzen zahlte er es ihr mit gleicher Münze heim, biss genauso kräftig zu, und sie schmeckte ihr eigenes salziges Blut.
Schmerzlich stöhnte sie, betastete die blutende Stelle mit der Zungenspitze. Doch die wurde sofort von Daniels Zunge beiseitegeschoben, die nun die kleine Wunde erforschte und sanft über das zarte Fleisch strich.
Nur eine ganz kurze Berührung – und trotzdem diese idiotische Schwäche, die eine Hitzewelle durch Sages Körper jagte … Sie konnte sich nicht dagegen wehren, konnte ihn nur anstarren mit verräterischen Augen, von plötzlicher Leidenschaft verdunkelt, konnte nicht verhindern, dass sich die Knospen ihrer Brüste aufrichteten, den atemlosen Seufzer nicht unterdrücken. Die Qual, die in ihrem Unterleib pulsierte, zwang ihrem Verstand eine bittere Erkenntnis auf. Sollte er beschließen, sie jetzt und hier zu nehmen – ohne die mildernden Schleier von wechselseitiger Zuneigung und Achtung, ohne die Entschuldigung schwindelerregenden Weines oder leiser, sinnlicher Musik, ohne den Komfort eines Betts, ohne die geringsten Verhütungsmaßnahmen – sie würde sich von Daniel hungrig und begierig zur höchsten Erfüllung dieser wilden Lust führen lassen. Und der Akt wäre so überwältigend und hemmungslos wie die Sehnsucht, die sie zu verzehren drohte.
Dieses Wissen entsetzte Sage. In solche Tiefen persönlicher Erniedrigung war sie noch nie hinabgesunken. Nie zuvor hatte sie einen Mann so heiß begehrt, noch nie ein Verlangen gespürt, das ihren Stolz und ihr Selbstwertgefühl dermaßen untergraben hätte.
Und während sie in sein Gesicht schaute, machte sie eine zweite beängstigende Entdeckung. Er wusste genau, was in ihr vorging, kannte sie so intim wie sie sich selbst. Sie las es in seinen Augen. Das riss sie in die harte Realität zurück, gab ihr endlich die Kraft, sich aus seinen Armen zu befreien.
„Nicht, Sage“, flüsterte er heiser. Er stand zwischen ihr und der Tür. Es gab keinen Fluchtweg, keine Möglichkeit, ihren Stolz zu retten, indem sie einfach ignorierte, was geschehen war.
Also musste sie sich der Konfrontation stellen, und das tat sie in tapferer Resignation. Es wäre sinnlos gewesen, ein
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