Schattenjahre (German Edition)
einmal nach diesem kurzen Gespräch mit dem Mann, der ihr den Weg zum Liegeplatz des Schiffes zeigte. Sie dankte ihm und fuhr weiter. Die Leute gaben sich nicht mehr damit zufrieden, dass man ihnen sagte, was gut für sie war und wie sie leben sollten. Der Krieg hatte viele Dinge geändert, manche für immer.
Die Anzahl der großen Schiffe im Hafen verblüffte Liz ebenso wie die riesige Menschenmenge. Familien mit kleinen Kindern nahmen tränenreichen Abschied von den Vätern.
In der Zeitung hatte sie gelesen, wie viele Engländer auswanderten, um in Commonwealth-Ländern wie Kanada, Australien und Neuseeland ein neues Leben zu beginnen. Aber beim Anblick dieser unzähligen Reisenden, die am Kai standen, von Gepäckstücken umgeben, fühlte sie sich plötzlich unsicher und traurig.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihr zumute wäre, wenn sie die Heimat verlassen müsste – Cottingdean, das ihr mittlerweile so viel bedeutete. Bei diesem Gedanken fröstelte sie.
War es falsch, ein Haus so sehr zu lieben, sich damit so eng verbunden zu fühlen, als wäre es ein Teil von ihr? Normalerweise eher pragmatisch, machte sie sich wegen dieser albernen Überlegungen Selbstvorwürfe. Cottingdean war zwar schön und wundervoll, aber nur ein Haus. David und Edward – nur auf diese beiden kam es an.
Da sie noch Zeit hatten, schlug sie Vic vor, irgendwo zu essen. Er protestierte, dann gab er nach, und sie fuhren in die Stadtmitte, wo sie neben anderen Autos auf einem nur teilweise vom Schutt befreiten Trümmergrundstück parkten. Erstaunt beobachtete Liz, wie viel in Southampton gebaut wurde, und sie blickte neidisch auf ein halbes Dutzend Männer, die an den Grundmauern eines neuen Hauses arbeiteten. Sie wünschte, sie könnte die Kräfte und Fachkenntnisse dieser Leute lange genug nutzen, um Cottingdean instand setzen zu lassen.
In einem Joe-Lyons-Lokal aßen sie zu Mittag. Vic beharrte darauf, die Rechnung zu begleichen, und Liz ließ ihn taktvoll gewähren. Seit Davids Geburt standen sie sich sehr nahe. Obwohl der Schäfer ein paar Jahre älter war als sie, erschien er ihr wie ein jüngerer Bruder, den sie stets vermisst hatte. Er war ein wortkarger, verschlossener Mann, aber man brauchte ihn nur inmitten seiner Herde zu sehen, um seine Herzensgüte zu erkennen. Sie bezweifelte nicht, dass er den Auftrag in Australien gewissenhaft erledigen würde. Doch sie verspürte Schuldgefühle, weil sie ihn von allem trennte, was er kannte, und ihn in eine völlig fremde Welt schickte. Andererseits beneidete sie ihn um diese Reise, um seine Freiheit.
Sosehr sie David auch liebte, so viel Cottingdean ihr bedeutete, so dankbar sie ihrem Mann war – manchmal sehnte sie sich nach Unabhängigkeit von ihrem Mann. Doch ohne Edward würde ihr Leben mit David ganz anders aussehen. Wenn sie sich das vor Augen führte, verdrängte sie ihre rebellischen Gedanken und stürzte sich mit gesteigerter Energie in ihre Arbeit. Sie würde viel Kraft und Liebe brauchen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollte, wenn Haus Cottingdean wieder in seinem alten Glanz erstrahlen sollte.
Gemeinsam mit Chivers hatte sie schon viel geleistet oder „Wunder vollbracht“, wie Ian Holmes trocken zu bemerken pflegte. Kurz nach Davids Geburt hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal in einem großen Gemüse- und Obstgarten schalten und walten, dass die doppelte Staudenrabatte eines Tages wieder so üppig wachsen würde wie früher. Sam hatte ihr fleißig geholfen. Wenn er auch nicht allzu klug war, so zeichnete ihn doch eine natürliche Verbundenheit mit allem aus, was grünte und blühte, und er wusste erstaunlich viel über die Pflanzenwelt.
Irgendwo hatte er Keimlinge aufgetrieben, um die Löcher in der Rabatte zu füllen, und in langen, harten Arbeitsstunden Unkraut und Dornengestrüpp entfernt. Wenn Liz an diesem Abend nach Hause kam, wollte sie eine kostbare einsame Stunde in ihrem Garten verbringen, den Lohn der Mühe bewundern, die friedliche Stille genießen.
Dan Holcombe und Chivers hatten begonnen, das Haus zu restaurieren. Sie benutzten alle Materialien, die sie „fanden“, um die schlimmsten Schäden zu beheben. Das Dach leckte nichtmehr, auf dem Küchenherd konnte man nun jederzeit genug Wasser erhitzen, die feuchten Flecken verschwanden von den Wänden. Und Dan entwickelte unerwartetes künstlerisches Feingefühl, während er die alten Stuckornamente an den Zimmerdecken ausbesserte. Allmählich erwachte das Haus zum Leben.
Auf der
Weitere Kostenlose Bücher