Schattenjahre (German Edition)
junger Mann, sagte sie sich. Und du bist eine junge Frau,wurde sie von einer rebellischen inneren Stimme erinnert, die sie nicht hören wollte, weil sie sich das nicht leisten konnte.
Trotz eines harten, eisigen Winters gelang es ihnen, die Verluste in der Schafherde auf ein Minimum zu beschränken. Liz zählte die Nächte nicht mehr, die sie an der Seite eines gebärenden Mutterschafs verbrachte, grimmig entschlossen, das Vertrauen zu rechtfertigen, das Vic in sie gesetzt hatte. Dabei dachte sie oft an die Nacht von Davids Geburt.
Verwaiste Lämmer drängten sich in der Küche. Gerührt beobachtete sie, wie behutsam David die kleinen Tiere behandelte. Er schien instinktiv das Leid anderer wahrzunehmen und Mitgefühl zu empfinden. Manchmal fragte sie sich, ob es richtig war, dass er so viel Zeit mit Edward verbrachte. Vielleicht sollte sie ihn ermutigen, mit Gleichaltrigen zu spielen und mit den lebhaften Dorfjungen auf Entdeckungsreisen zu gehen. Aber die beiden waren so gern zusammen und verstanden sich auch ohne Worte.
Chivers vernachlässigte die Betreuung Edwards ein wenig, um Liz bei der Herde zu helfen. Sie glaubte schon, der Winter würde niemals enden, der Frühling nie mehr anfangen, doch da begann der Schnee zu schmelzen. Krokusse blühten an geschützten Stellen im Garten, und dann kam ein Brief von Vic mit der Nachricht, er sei auf der Heimreise und der dringend benötigte Schafbock befinde sich an Bord des Schiffes.
In seinem Brief erwähnte er nicht, wie es ihm gelungen war, den Australier umzustimmen. Aber Liz war zu glücklich über die großartige Neuigkeit, um darüber nachzugrübeln, wie der junge Mann das Wunder vollbracht haben mochte.
Wenige Wochen nach dem Brief traf Vic ein – ein sonnenbrauner, veränderter Vic mit breiteren Schultern, dessen Augen weit über den Horizont der heimatlichen Berge hinauszublicken schienen. Er führte Liz beiseite und erzählte ihr, er habe nicht nur den Bock aus Australien mitgebracht. „Diese Idee haben Sie mir in den Kopf gesetzt.“
Sie erriet sofort, was er meinte, und sekundenlang schnürte ihr das Gefühl eines schmerzlichen Verlustes die Kehle zu. „Eine Ehefrau“, erwiderte sie leise.
„Ja. Sie ist die Tochter von Woolongas Vorarbeiter. Ihr ganzes bisheriges Leben hat sie da draußen in der Wildnis verbracht. Eine magische Landschaft, die einen gefangen nimmt – ich hab’s selbst gespürt. Sie wollte herkommen und England sehen.“ Er lächelte wehmütig. „Aber sobald der Bock sich eingelebt hat – und wenn ich einen neuen Schäfer für Sie finde –, werden wir wohl auf die Woolonga-Ranch zurückkehren.“
Woolonga – Woolonga … Der Name klang feindselig in Liz’ Ohren. Sie sah zu Vic auf und las in seinen Augen alles, was er nicht aussprach, was er ihr nicht sagen durfte. „Wer weiß“, hatte sie gescherzt, „vielleicht bringen Sie aus Australien nicht nur einen Woolonga-Bock, sondern auch eine hübsche Braut mit.“ Doch sie hatte ihn nie von Cottingdean vertreiben wollen. Dafür brauchte sie ihn viel zu sehr. Der Kummer in ihrem Herzen beruhte nicht nur auf der Ahnung, wie schmerzlich sie ihn vermissen würde, sondern auch auf der Erkenntnis ihrer Selbstsucht. Wie durfte sie erwarten, dass er hierblieb, wenn sie ihm nichts bieten konnte? Zumindest nicht so viel wie seine Frau. Und sie hatte überhaupt kein Recht auf die Gefühle, die er in ihr weckte.
Ein paar Tage später lernte sie seine Frau Beth kennen, ein dunkelhaariges, zierliches Mädchen mit sonnengebräunter Haut und blauen Augen. Der Arbeitgeberin ihres Mannes begegnete sie neugierig und ein bisschen aggressiv. Wie Liz seufzend feststellte, würden sie sich wohl niemals miteinander anfreunden. Sie wusste nicht, ob Beth sie als Bedrohung für ihre Ehe betrachtete oder ob sie – in einem Land ohne Klassenunterschiede aufgewachsen – sich einfach nur weigerte, die Danvers mit dem gleichen altmodischen Respekt zu behandeln wie ihr Mann. Liz wusste nur eins, so betrüblich es ihr auch erschien – Vics Entschluss, in Australien ein neues Leben anzufangen, war sicher das Beste für alle Betroffenen.
Er hielt Wort und reiste nicht ab, ehe er einen vertrauenswürdigen Nachfolger gefunden hatte. Das dauerte drei Monate, und Liz hatte es bereits gründlich satt, aus Beths Mund ständig die Wörter „Ranch“ und „Woolonga“ zu hören. Die Schafranch und ihr Eigentümer mussten geradezu überwältigend sein, viel imposanter als alles, was Cottingdean zu bieten hatte.
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