Schattenjahre (German Edition)
Rückfahrt zum Hafen bemerkte Liz, wie nervös Vic war. Sie stiegen aus dem Auto, und als sie den Kai entlanggingen, hängte sie sich bei ihm ein, drückte schwesterlich seinen Arm, um ihn zu beruhigen. Aus dem Hintergrund ihres Bewusstseins tauchte ein schockierender Gedanke auf – dieser junge Mann fühlte sich ganz anders an als Davids weiches Babyfleisch und Edwards kranker Körper. Nur sekundenlang erinnerte sie sich an Kit. Das geschah in letzter Zeit nur selten. Nichts an ihm erschien ihr denkwürdig. Aber für einen kurzen, schmerzlichen Atemzug, während sie Vics muskulösen Arm spürte, dachte sie, wie es gewesen war, jung und verliebt zu sein, von einem Mann umarmt zu werden.
Rasch ließ sie ihn los, wandte den Kopf ab und schaute aufs Meer. Welch dumme Tagträume für eine Frau in ihrem Alter, in ihrer Situation – noch dazu, wo sie die Intimitäten mit Kit gar nicht genossen hatte …
Endlich durften die Passagiere an Bord gehen, und sie begleitete Vic. Seine kleine Kabine teilte er mit einem anderen Alleinreisenden. Nachdem er sein Gepäck darin verstaut hatte, kehrte er wortlos mit Liz an Deck zurück. Jeder vertiefte sich in seine eigenen Gedanken.
Dann brach Vic das Schweigen. „Tom Hudson ist ein guter Farmer, aber ob er auf unsere Herde so aufpasst wie auf seine eigene …“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte Liz besänftigend. „Die Herde wird sicher gut betreut, darum kümmere ich mich.“
Ein knisternder Lautsprecher verkündete, nun müssten alle, die nicht zu den Passagieren zählten, von Bord gehen. Vic folgte Liz zur Laufplanke. Dort drehte sie sich um und wollte ihm viel Glück wünschen. Zu ihrer Verblüffung nahm er sie in die Arme – viel zu fest – und gab ihr einen ungeschickten brüderlichen Kuss. Fast sofort ließ er sie wieder los, das Gesicht feuerrot, und stammelte eine Entschuldigung. Doch die unerwartete Nähe eines Männerkörpers und der Kuss, mochte er auch mangelnde Erfahrung verraten haben, weckten so viele Erinnerungen, dass sie zunächst sprachlos war. Hatte er vorhin ihre Gedanken gelesen? Hatte sie ihm unbeabsichtigt zu verstehen gegeben, sie würde sich nach einer Liebkosung sehnen? Sie schluckte, wütend auf sich selbst, und rang nach Fassung. Schließlich brachte sie ein – wie sie hoffte – aufmunterndes Lächeln zustande. „Sicher fällt es Ihnen schwer, England zum ersten Mal zu verlassen, Vic.“
„Ja“, bestätigte er leise und wandte sich ab, sichtlich verlegen.
So durften sie sich nicht trennen. Immerhin verdankte sie ihm Davids Leben und vermutlich auch ihr eigenes. Tröstend berührte sie seinen Arm und fühlte, wie sich seine Muskeln unter ihren Fingerspitzen verkrampften. „Ich werde Sie vermissen, Vic. Aber es wäre selbstsüchtig von mir, Sie in Cottingdean festzuhalten – wo wir doch so dringend einen Schafbock brauchen …Wer weiß“, fügte sie mit erzwungener Fröhlichkeit hinzu, „vielleicht bringen Sie aus Australien nicht nur einen Woolonga-Bock mit, sondern auch eine hübsche Braut.“
Er erwiderte ihr Lächeln und ging tapfer auf ihren distanzierten Konversationston ein, indem er trocken entgegnete: „Von einem Bock hätte ich viel mehr als von einer Ehefrau …“ Er zögerte, und der Ausdruck in seinen Augen bewog sie, rasch wegzuschauen. Ihr ganzer Körper spannte sich an. Diesen Blick hatte sie schon einmal in Männeraugen gesehen und irrtümlich für Liebe gehalten. Doch der junge Vic liebte sie nicht, durfte sie nicht lieben. Wenn er solche Gefühle entwickelte, musste sie ihn wegschicken, und ihre Familie brauchte ihn so dringend. Cottingdean brauchte ihn. Und außerdem …
Liz schloss die Augen und wehrte sich gegen die Vorstellung, wie wundervoll es wäre, in seine Arme zu sinken, ihn flüstern zu hören, es gebe keinen Grund, warum sie nicht beide auf die Suche nach dem Goldenen Vlies gehen sollten. Dies sei ihre einzige Chance, beisammen zu sein. Und ein Liebespaar zu werden, fügte sie in Gedanken bitter hinzu. Hatte sie denn gar nichts aus der Vergangenheit gelernt? Sie war eine verheiratete Frau mit einem invaliden Mann und einem kleinen Kind. Eine verheiratete Frau, die sich bereitwillig für sexuelle Enthaltsamkeit entschieden hatte …
Und doch – als sie Vic wieder ansah und sich entsann, wie sanft und behutsam seine Hände bei Davids Geburt mit ihr umgegangen waren, wollte sie ihm so viel sagen, dass die Worte in ihrerKehle brannten. Sie sprach es nicht aus, denn wie sie im Grunde ihres
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