Schattenjahre (German Edition)
Herzens wusste, mochte sie ihn, brauchte seine Stärke und Kameradschaft, liebte ihn aber nicht. Ihm etwas anderes vorzugaukeln wäre ein Betrug, auch an Edward und David. Und so schüttelte sie ihm die Hand und verabschiedete sich so munter, wie sie es fertigbrachte. „Jetzt muss ich gehen. Gute Reise, Vic. Ich freue mich schon auf den Schafbock, denn ich habe große Pläne mit unserer Herde.“
Da lachte er, aber es klang gepresst.
Sie hatte ihm bereits erklärt, sie wolle die ehrwürdige Tradition von Cottingdean fortsetzen, an Ort und Stelle Schafwolle zu spinnen und zu weben, die alte, jetzt leer stehende und vernachlässigte Spinnerei und das Wasserrad, das die Maschinerie einst betrieben hatte und jetzt im von Unkraut überwucherten Mühlteich verrostete, zu neuem Leben erwecken. Und ihre Begeisterung hatte ihn angesteckt.
„Auf Wiedersehen, Vic“, wisperte sie, dann gehorchte ihr die Stimme nicht mehr.
Liz neigte sich zu ihm, küsste seine Wange, eilte hinter anderen Begleitpersonen von Bord und wagte nicht, sich umzudrehen. Sie wartete nicht, bis der Anker gelichtet wurde, stieg in ihr Auto und trat die Rückfahrt nach Cottingdean an. Dabei versuchte sie, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag, nicht auf die Vergangenheit. Ihr Sohn und ihr Mann und das Haus – dies war ihr Lebensinhalt, dafür trug sie die Verantwortung. Sie analysierte die Situation, und schließlich glaubte sie, es geschafft zu haben, zu ihrer Familie heimkehren zu können, ohne das geringste Schuldgefühl.
Während der Fahrt durch ein kleines Dorf musste sie anhalten und eine kleine Prozession passieren lassen. Die Leute schleppten einen riesigen, geschnitzten Eichenschrank, und plötzlich überlegte Liz, wie gut er in der leeren Halle von Haus Cottingdean zur Geltung käme. Von einem Impuls getrieben, den sie nicht genau definieren konnte, sprang sie aus dem Wagen und erkundigte sich atemlos, was mit dem Schrank geschehen solle.
„Wir werfen ihn weg“, erwiderte einer der Männer grimmig. „Der hat viel zu viel Platz in unserem Vorderzimmer eingenommen, seit meine alte Mutter zu uns gezogen ist. Jetzt lebt sie nicht mehr, und meine Frau meint, das schreckliche Ding kann verschwinden.“
Das Möbelstück war uralt und sehr schmutzig, aber unter der Patina sah Liz die Schönheit des Holzes und fühlte beinahe, wie es um Aufmerksamkeit und Pflege flehte. Ohne lange zu überlegen oder zu zögern, erbot sie sich: „Ich kaufe Ihnen den Schrank ab. Fünf Pfund – sechs, wenn Sie ihn auf meinem Autodach festmachen.“
Der alte Mann hielt sie offenbar für verrückt und musterte sie misstrauisch. „Der eignet sich nur noch als Brennholz. Aber wenn Sie ihn haben wollen. Ihr Mann soll bloß nicht herkommen und mir das Ding zurückbringen!“
„Das wird er bestimmt nicht tun“, versicherte Liz und gab ihm sechs Pfund. Glücklicherweise hatte Edward ihr Geld gegeben, falls sie beschließen sollte, in Southampton zu übernachten und erst am nächsten Morgen nach Cottingdean zurückzufahren.
Die Leute brauchten eine gute Stunde, um den Schrank zu Liz’ Zufriedenheit auf dem Wagendach festzubinden. Aber schließlich war es geschafft, und sie setzte die Fahrt fort.
Die Depressionen waren verflogen, und sie fühlte sich so fröhlich wie lange nicht mehr. Wenn sie es auch noch nicht wusste – an diesem Tag begann ihre lebenslange Liebesaffäre mit Antiquitäten. Später sollte sie viel kostbarere Stücke aufstöbern und erwerben als diesen alten Eichenschrank, aber nie wieder das gleiche Entzücken empfinden wie bei dieser ersten Errungenschaft. Voller Stolz folgte sie den leeren englischen Landstraßen und summte vor sich hin, während ihre Beute auf dem Autodach gefährlich wackelte!
In Vics sechsmonatiger Abwesenheit gab es eine Menge zu tun. Die Herde warf unvermeidliche Probleme auf. David wuchs schnell heran, ein ruhiges, liebenswertes Kind, so zauberhaft, dass die Mutter manchmal verwundert den Atem anhielt. Von Kits Grausamkeit oder Bosheit hatte er nichts geerbt. Er war ein völlig eigenständiger Mensch.
Vic schrieb, der Besitzer der Woolonga-Böcke weigere sich, eines seiner Prachtstücke zu verkaufen, und Liz gewann den Eindruck, der Australier müsste ein kompromissloser, hartherziger Mann sein. Wie sie den Briefen ihres Schäfers entnahm, imponierte ihm der Züchter ganz gewaltig. Sie überlegte, ob sich Vic nach dieser Reise wieder mit seinem beschaulichen Leben auf der Weide begnügen würde. Er ist ein
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