Schattenjahre (German Edition)
runzelte die Stirn. Wem mochte dieser Wagen gehören? Sie bekamen nur selten unangemeldeten Besuch, und sie verspürte ein vages Unbehagen.
Ohne zu wissen, warum, betrat sie das Haus nicht durch den Vordereingang, sondern durch die Küchentür. Der Besucher konnte nur bei Edward sein. Als sie sich der offenen Bibliothekstür näherte, hörte sie zwei Männer sprechen – Edwards müde, angestrengte Stimme und eine tiefere, kraftvolle, mit einem undefinierbaren Akzent. Sie ging ins Zimmer und bemerkte sofort den krassen Unterschied zwischen ihrem dünnen, grauhaarigen geschwächten Mann und dem großen, breitschultrigen Fremden.
Lebhafte grüne Augen musterten sie, nicht so, wie ein Mann eine Frau taxiert, eher auf distanzierte, fast gleichgültige Weise.
„Darling, das ist Lewis McLaren“, erklärte Edward. „Er ist aus Australien hierhergekommen und wollte mal vorbeischauen, um zu sehen, wie sich sein Schafbock macht.“
Lewis McLaren, Vics Boss, der Eigentümer der Woolonga-Ranch. Von dort stammte der wunderbare Bock, dem die Cottingdean-Fabriken ihre hervorragende Schafwolle verdankten.
„Mr McLaren …“ Unsicher sah sie ihn an, zurückhaltend, fast unfreundlich. Früher hätte ihn das neugierig gemacht. Früher … Sein Verstand registrierte Mrs Danvers Schönheit, die ihn verblüffte, doch es erregte keinerlei Gefühle. Natürlich hatten Vic und Beth von ihr erzählt. Beths Abneigung gegen diese Frau war ihm ebenso wenig entgangen wie Vics melancholische Stimmung, in die er jedes Mal geriet, wenn von Liz Danvers gesprochen wurde. Auch von Edward Danvers hatte Lewis McLaren erfahren, von seiner Invalidität.
Trotz seines Gebrechens hatte dieser Mann eine Frau und einen Sohn. Bitter verzog McLaren die Lippen. Liz bemerkte es und fragte sich, womit sie den grimmigen Ausdruck in seinen Augen verdiente. Er reichte ihr die Hand, sicher nur notgedrungen, aus Höflichkeit. Beinahe widerstrebend griff sie danach und spürte raue Schwielen. Ein seltsames Gefühl durchströmte sie, ein intensives Bewusstsein seiner Männlichkeit, seiner Gesundheit. Verglichen mit Edward … Hastig verdrängte sie diesen Gedanken.
Sie war müde und nervös, nichts weiter. Und sie hatte es satt, ihren Mann ständig mit Samthandschuhen anzufassen, aus Angst vor seinen Depressionen und gewalttätigen Anwandlungen, die sich in letzter Zeit wieder häuften.
„Du hast David also wohlbehalten im Internat abgeliefert?“, fragte Edward und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, voller Stolz an den Besucher. „David ist unser Sohn, ein großartiger Junge.“
Wie immer rührte seine Liebe zu David ihr Herz und erinnerte sie daran, wie viel sie ihm verdankte.
„Haben Sie eine Familie, Mr McLaren?“, erkundigte er sich.
„Nein.“ Das Wort klang hart und abweisend, im kantigen Kinn zuckte ein verräterischer Muskel.
Liz runzelte die Stirn. In einem seiner Briefe hatte Vic erwähnt, der Besitzer der Woolonga-Ranch sei verheiratet und seine Frau erwarte ein Kind. Aber wie Lewis McLarens Miene deutlich bekundete, wollte er nicht über sein Privatleben sprechen. Taktvoll wechselte sie das Thema undwahrte Distanz. Das war nicht schwierig. Mr McLaren blieb zwar höflich, aber sie gewann den Eindruck, dass er sie als Frau gar nicht zur Kenntnis nahm. Das beruhigte sie, denn es wurde immer mühsamer, Edwards Eifersucht zu bewältigen.
Erst letzte Woche hatte er wieder einmal die Beherrschung verloren und sie beschuldigt, er sei ihr lästig, die Ehe hänge ihr zum Hals raus. Wann immer ihn diese düsteren Stimmungen überfielen, haderte er mit seinem Schicksal, bis er erschöpft in Tränen ausbrach, wie ein hilfloses Kind weinte, sich an Liz klammerte und sie anflehte, ihn niemals zu verlassen. Diese Szenen überstiegen allmählich ihre Kräfte, und nur der Himmel mochte wissen, was sie Edward antaten.
Sage legte das Tagebuch beiseite und starrte ins Leere. Lewis McLaren! Scotts Vater! Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass die Mutter ihn so lange kannte. Warum auch? Die beiden lebten ein paar Tausend Meilen voneinander entfernt. Natürlich hatte sie von jenem ersten australischen Schafbock gewusst, aber Scott bei ihrer früheren Lektüre der Tagebücher niemals mit der Woolonga-Ranch in Verbindung gebracht. Er hatte immer nur von der „Ranch“ gesprochen. Und bei seinem ersten Besuch in Cottingdean war die alte Bekanntschaft zwischen Liz und Lewis McLaren kein einziges Mal zur Sprache gekommen. Der Schock über diese neuen
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