Schattenjahre (German Edition)
auf mein schlechtes Verhältnis zu meinem – zu Edward zurück. Erst wurde ich von ihm abgewiesen, dann von Scott … Ich fühlte mich schmählich im Stich gelassen und ganz verloren. Nach der Lektüre von Mutters Tagebüchern frage ich mich, ob es nicht eine viel einfachere Erklärung für meine Sehnsucht nach Scott gibt. Vielleicht spürte ich im Unterbewusstsein unsere Blutsbande. Gerade, weil wir Zwillinge sind, müsste eine besondere Vertrautheit zwischen uns herrschen. Seltsam – kein Mensch sagtejemals auch nur ein Wort über meinen Zwillingsbruder.“
„Deine Mutter erwähnte doch in ihren Aufzeichnungen, Scott – oder Nicholas, den Lewis McLaren natürlich umtaufen musste – habe für tot gegolten. Und weil sie es nicht ertrug, daran erinnert zu werden, sei das Thema tabu gewesen.“
„Aber wie leicht hätte ich es herausfinden können! Nicht, dass ich einen Zwillingsbruder habe, aber dass es da noch ein Kind gab. Und all die Jahre hatte ich keine Ahnung.“
Faye zuckte die Achseln. „Vielleicht glaubten die meisten Leute, du wüsstest Bescheid, und schwiegen, um deine Gefühle zu schonen.“
„Chivers wusste es natürlich. Aber er war Mutter und Edward treu ergeben. Niemals hätte er mit mir über Familienangelegenheiten geredet. Und bevor er friedlich starb, wäre ich ohnehin zu unreif für solche Dinge gewesen. Da war ich dreiundzwanzig … Ich gehe jetzt nach oben und hole die Telefonnummer. Hoffentlich weiß Scott das alles, sonst wird er einen schlimmen Schock erleiden.“ Unsicher hielt Sage inne. „Meinst du wirklich, dass es nötig ist?“
„Deine Mutter braucht alle Hilfe, die sie nur bekommen kann, um die Operation und die Nachwirkungen zu überstehen. Und ich denke, wenn sie aus der Narkose erwacht und Scott an deiner Seite sieht …“
„Ja, du hast recht.“
Sage fand die Nummer in einem alten Adressbuch, das sie aufbewahrt hatte, ohne sich nach den Gründen dieses sentimentalen Impulses zu fragen. Als sie diese Nummer das letzte Mal gewählt hatte, war ihr mitgeteilt worden, Mr Scott McLaren nehme keine Anrufe von ihr entgegen.
Es hatte so weh getan … Sie erschauerte, als sie erkannte, mit welch knapper Not sie einer Katastrophe entronnen war. Zum Glück hatten sie nie miteinander geschlafen. Selbst wenn es unwissentlich geschehen wäre – der Gedanke an Liebesstunden mit ihrem Bruder würde sie maßlos entsetzen, auch noch nach so vielen Jahren. Nun, das blieb ihr erspart. Dafür musste sie ihrer wachsamen Mutter danken – und Lewis McLaren, ihrem Vater.
Zum ersten Mal überlegte sie, wie ihm zumute gewesen sein mochte, als er nach so langer Zeit wieder von Liz gehört und erfahren hatte, sein Sohn und seine Tochter seien nahe daran, ein Liebespaar zu werden. Tränen stiegen in ihrer Kehle auf, aber die schluckte sie hinunter. Zum Weinen hatte sie jetzt keine Zeit.
Sie eilte mit dem Adressbuch in die Bibliothek zurück und gab es Faye. „Du musst anrufen. Ich kann nicht …“
Sie verstummte, als Camilla eintrat und plötzlich zurückzuckte, als wäre sie gegen eine unsichtbare Barriere gestoßen. Sage lächelte grimmig. Die intensiven Gefühle, während der letzten Stunden in diesem Raum empfunden, mussten fast greifbar sein. Kein Wunder, dass ihre Nichte so ängstlich dreinschaute … „Was ist denn los?“, fragte sie atemlos. „Gran …“
„Nein, nein“, wurde sie von ihrer Mutter beruhigt. „Es ist nichts. Lauf doch nach oben und zieh dich um, dann …“
„Nein“, fiel Sage ihr leise ins Wort, „wir sollten ihr alles sagen. In dieser Familie gab es viel zu viele Geheimnisse – wenn sie auch in bester Absicht gehütet wurden.“
Camilla blinzelte verwirrt. „Was wollt ihr mir sagen?“
In kurzen Worten und möglichst emotionslos berichtete Sage, was sie in dem Tagebuch gelesen hatte.
„Du hast einen Zwillingsbruder?“ Camilla starrte sie an, dann sank sie in einen Sessel. „Du meine Güte! Weiß er es? Wie ist er? Ich …“
„Bitte keine Fragen, Cam!“, wurde sie energisch von ihrer Mutter unterbrochen. „Das alles hat Sage einen schweren Schock versetzt, du darfst ihr nicht auf die Nerven fallen. Soll ich jetzt telefonieren?“, wandte sie sich an ihre Schwägerin.
Schweigend nickte Sage, und Camilla rief: „Mit wem denn, Ma? Will mir denn niemand verraten, was hier los ist?“
„Sei nicht so ungeduldig, Cam! Ich benutze diesen Apparat – okay, Sage? Irgendwie finde ich es passend, von diesem Zimmer aus anzurufen, weil es Liz’
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