Schattenjahre (German Edition)
sichergehen, dass deine Mutter in den bestmöglichen Händen ist.“
Die alte Sage – die Sage, die sie vor ihrer Reise durch die Vergangenheit der Mutter gewesen war, hätte empört gegen diese Arroganz protestiert, gegen die offenkundige Annahme, sie wäre unfähig, gemeinsam mit Faye eine erstklassige ärztliche Betreuung für Liz zu gewährleisten. Abernun entdeckte sie in sich selbst das Talent der Mutter, hinter die Fassade der Dinge zu blicken, die Wahrheit hinter den Reaktionen der Menschen zu erkennen. Und sie spürte Lewis McLarens Angst, seine Verzweiflung, das Bedürfnis, in Liz’ Nähe zu sein. Und so entgegnete sie einfach beschwichtigend: „Ich werde mit dem Arzt reden, aber er wird nicht besonders erfreut sein.“ Sie zögerte kurz, dann konnte sie die Frage nicht länger unterdrücken: „Und – Scott? Geht es ihm gut? Ist er glücklich?“
„Sehr glücklich“, antwortete Lewis, ohne seine Rührung zu verbergen. „Er ist verheiratet und hat zwei nette Söhne. Aber vor der Hochzeit musste ich ihm die Wahrheit sagen – und erklären, warum er sich von dir trennen musste.“
„Ich verstehe.“ „Das alles bedaure ich sehr. Aber deine Mutter und ich … Und Edward … Nun, wir mussten tun, was für euch beide das Beste war.“ Er räusperte sich, dann fuhr er fort: „Sobald wir in London sind, rufe ich dich an. Wo kann ich dich erreichen?“
„Hier, in Haus Cottingdean.“ Sie diktierte ihm die Nummer durchs Telefon.
Als sie gerade auflegen wollte, beteuerte Lewis eindringlich: „Ich habe nie aufgehört, Liz zu lieben. Und seit sie mich wegschickte, gab es keinen einzigen Tag, wo ich nicht an sie dachte. Oder an dich. Euch alle wollte ich bei mir haben. Aber sie konnte und wollte Edward nicht verlassen. Er war ihr wichtiger als ich.“
„Da irrst du dich“, widersprach Sage tief bewegt. „So war es nicht. Sie fühlte sich Edward nur verpflichtet – weil sie ihm so viel schuldete …“
„Was schuldete sie ihm? Den Rest ihres Lebens – unser Glück – meine Kinder?“
Sie hörte die Bitterkeit aus seinen Worten heraus, die Trauer um den Verlust, und die Kehle wurde ihr eng. Wie gut sie das alles nachempfinden konnte … O ja, sie war die Tochter ihres Vaters. Auch Liz musste das im Lauf der Jahre oft genug festgestellt haben. Sicher war ihr Kummer dadurch noch größer geworden.
Das Telefonat war beendet. Tränen rollten über Sages Wangen. Wortlos warf sie sich in Fayes ausgebreitete Arme. Camilla lief zu ihnen, umschlang sie alle beide, und so standen sie eine Zeit lang da, in schweigendem, weiblichem Einvernehmen.
Schließlich schob Sage ihre Schwägerin und ihre Nichte sanft von sich: „Wir müssen die Klinik anrufen und einen Aufschub der Operation erwirken. Wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig, als die Gründe zu erklären. Würdest du das erledigen, Faye? Ich fürchte, ich schaff’s nicht …“
„Okay. Geh doch nach oben und leg dich hin. Du hast heute einiges durchgemacht.“
„Nein, ich bleibe hier. Ich werde mich ablenken und ein paar Briefe beantworten – von all den Leuten, die sich nach Mutters Befinden erkundigen. Ich wusste zwar, welch einen großen Bekanntenkreis sie hat – aber dass es so viele sind …“
„Sie ist sehr beliebt.“
„Hm … Ob sie jemals überlegt hat, was sie alles aufgab, als sie sich weigerte, meinem Vater nach Australien zu folgen?“
„Ganz bestimmt. Welche Frau würde nicht an so etwas denken?“
Wie Faye erwartet hatte, reagierte Alaric Ferguson erst ungläubig, dann wütend, als sie ihm mit ruhiger Stimme mitteilte, Liz’ Operation müsse um vierundzwanzig Stunden verschoben werden. Womit sie nicht gerechnet hatte, war ihre leichte Belustigung, in die sich auch eine gewisse Erregung mischte. Denn sie ahnte, dass ein persönliches Interesse an ihr seinen Ärger noch steigerte.
Sie erklärte ihm, welche Gründe die Familie zu diesem Entschluss bewogen hatten, und da gab Alaric widerstrebend nach. Sie spürte, wie sehr er es hasste, in die Enge getrieben zu werden – noch dazu von ihr. Als sie den Hörer auf die Gabel legte, kostete sie zum ersten Mal in ihrem Leben jene erotische Macht aus, die für einen Großteil ihrer Geschlechtsgenossinnen selbstverständlich war.
Wenn sie ihrer Schwägerin glauben durfte, fühlte sich Alaric zu ihr hingezogen. Und sie war neugierig genug auf ihn, sodass ihr dieser Gedanke schmeichelte.
Daniel runzelte die Stirn und betrachtete sein stummes Telefon. Der erwartete
Weitere Kostenlose Bücher