Schattenjahre (German Edition)
ureigenstes Reich ist.“
„Ja“, stimmte Sage lächelnd zu. Ein Teil von ihr wünschte sich sehnlich, das Telefongespräch selbst zu führen, ein anderer wollte aus der Bibliothek fliehen. Sie fürchtete sich vor Scotts Reaktion. Wenn er noch nichts wusste, wenn er gar nichts wissen wollte … Und sein Vater – ihrVater …
Während Faye die Nummer wählte, kehrte Sage ihr den Rücken. Plötzlich war ihr Mund staubtrocken, ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie hörte, wie Faye sich räusperte, offenbar von der gleichen Nervosität erfasst, und dann mit fester Stimme erklärte: „Hier ist Faye Danvers. Bitte, ich möchte Mr Scott McLaren sprechen. Mein Name wird ihm vielleicht nichts sagen … Ja, ich warte.“ Sie legte eine Hand auf die Sprechmuschel und drehte sich zu ihrer Schwägerin um. „Die Haushälterin holt ihn. Sie glaubt, er ist im Büro.“ Sage wandte sich wieder zu ihr. „Hm … Nach allem, was Scott mir über das Haus erzählt hat, muss es riesig sein …“ Sie verstummte abrupt, denn nun nahm Faye die Hand von der Sprechmuschel.
So deutlich, als würde sie selbst telefonieren, vernahm Sage eine tiefe Männerstimme. „McLaren.“
McLaren.
Lewis McLaren. Nicht Scott. Davon war sie überzeugt – und Faye offenbar auch, denn sie fragte zögernd: „Mr Lewis McLaren? Ich wollte mit Scott McLaren reden.“ Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Sie kennen mich nicht, Mr McLaren, aber ganz sicher meinen Nachnamen. Meine Schwiegermutter ist Liz Danvers. Vor einiger Zeit erlitt sie einen schweren Unfall. Jetzt liegt sie im Krankenhaus, und sie soll demnächst operiert werden.“
Sie lauschte, dann erwiderte sie beruhigend: „Nein, nein, ihr Zustand ist stabil, aber es handelt sich um eine ziemlich komplizierte Operation. Kurz nach dem Unfall war Liz bei Bewusstsein und teilte ihrer Tochter Sage mit, sie habe seit ihrer Jugend Tagebuch geführt. Sie bat die Familie, diese Aufzeichnungen zu lesen. Um es kurz zu machen, Mr McLaren – soeben fand Sage heraus, dass Scott ihr Zwillingsbruder ist. Und da dachte ich – falls Scott weiß, wer seine Mutter ist, wird es ihn sicher interessieren … Ja, der Arzt hat uns versichert, Liz würde die Operation verkraften. Aus ihrem Gehirn soll ein Blutgerinnsel entfernt werden. Während sie unter der Einwirkung starker Sedativa stand, versuchte man es ohne Eingriff aufzulösen, aber … Welches Krankenhaus? Das St. Gile’s in London … Ja, es hat einen sehr guten Ruf. Sage und ich haben volles Vertrauen zu dem Chirurgen … Die Operation? Soviel wir wissen, ist sie für morgen geplant … Sie soll um vierundzwanzig Stunden hinausgeschoben werden? Ich glaube nicht …“ Faye runzelte die Stirn und hielt Sage den Hörer hin. „Er will mit dir reden.“
Mit ihr? Wie erstarrt stand Sage da – unfähig, auch nur einen kleinen Finger zu rühren.
Behutsam schob Camilla sie zum Telefon, Sage nahm ihrer Schwägerin wie in Trance den Hörer aus der Hand und rang mühsam nach Luft, als die fremde Männerstimme fragte: „Bist du’s, Sage?“
„Ja, ich bin hier.“ Sie erkannte ihre eigene Stimme – ein heiseres Flüstern – kaum wieder.
„Hier ist Lewis McLaren.“ Nach einer kurzen Pause folgte das raue, gefühlvolle Geständnis, mit dem sie nicht gerechnet hatte. „Dein Vater. Scott und ich werden die nächste Maschine nach London nehmen. Du musst verhindern, dass Liz’ Operation vor unserer Ankunft stattfindet – verstehst du? Sie müssen warten, bis wir da sind … Großer Gott, ich kann es nicht fassen. Hörst du mir zu, Sage?“
„Ja, ich höre. Wie lange …“
„Höchstens vierundzwanzig Stunden. Wir fliegen noch heute zur Küste und von dort nach England …“
„Ihr kommt also alle beide?“, unterbrach sie ihn. Nun klang ihre Stimme wieder normal.
Eine Zeit lang blieb es still am anderen Ende der Leitung, dann bestätigte Lewis leise: „Ja, wir beide – dein Bruder und ich.“
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass dieser Mann ihre Mutter sehr geliebt hatte und sie vielleicht – trotz der schmerzlichen, bitteren Trennung – immer noch liebte. Ein Gefühl, das sie voll und ganz mit ihm teilen würde, wenn auch auf andere Art … Und sie hoffte inständig, Liz bald zeigen zu können, was sie empfand. Lewis schien zu ahnen, was in ihr vorging, denn er fügte besänftigend hinzu: „Mach dir keine Sorgen, Sage, wir werden rechtzeitig in London eintreffen. Vor der Operation möchte ich den Arzt sprechen und
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