Schattenjahre (German Edition)
Anruf war nochimmer nicht erfolgt, und er hatte gehofft, er würde ihn erhalten, ehe Sages Ultimatum ablief.
Ein bisschen wunderte er sich über seine eigene Dummheit. Warum glaubte er, die Neuigkeiten würden sie umstimmen, ihre Feindseligkeiten mildern, die Beziehung entschärfen und bewirken … Was? Dass sie ein Liebespaar wurden? Aber er wollte nicht nur Sages Körper im Bett.
Gib es zu, verspottete er sich selbst, du bist besessen von dieser Frau, seit du sie kennst. Du begehrst sie nicht nur, du liebst sie.
Das Telefon klingelte, und er nahm den Hörer ab. Endlich der ersehnte Anruf. Als er auflegte, dachte er lächelnd: Es hat sich gelohnt, Helens Gesellschaft zu ertragen. Allerdings hatte er sich oft über ihre besitzergreifende Art geärgert, über das unverblümte Bestreben, die geschäftlichen Kontakte in private umzumünzen.
Eigentlich tat sie ihm fast leid – eine attraktive Karrierefrau, die bedauerlicherweise glaubte, ihre Schönheit und sinnliche Ausstrahlung müssten ihr automatisch Privilegien verschaffen. Sie suchte einen reichen Ehemann oder einen reichen Liebhaber, und ihre Jagdmethoden stießen Daniel ab. Er verglich sie mit Sage – mit der unabhängigen, stolzen, zurückhaltenden Sage. Zumindest war sie sehr distanziert gewesen, bis sie neulich die Nerven verloren und ihm gesagt hatte …
Seufzend schüttelte er den Kopf. Er war ein Narr gewesen, weil er ihre Schwäche nicht ausgenutzt hatte und … Was? Hätte er sich auf den Boden werfen und mit ihr schlafen sollen, im Staub der Old Hall? Nein, auf diese Weise durfte es nicht geschehen. Sicher, er begehrte sie, aber er wünschte sich nicht nur ihre sexuelle Hingabe, nicht nur das widerwillige Geständnis ihres Verlangens. Er wollte sie nicht beherrschen, ihre eigene Begierde nicht gegen sie verwenden. Nein, niemals würde er sie unterwerfen. Sie sollte freiwillig zu ihm kommen, aus eigenem Antrieb, voller Liebe.
Genauso gut könnte ich mich anschicken, den Mond vom Himmel runterzuholen, dachte er ironisch. Sage würde ihm ihr Herz nie auf einem Silbertablett präsentieren. Aber seine Fantasie ließ sich nicht an solchen Träumen hindern.
Auf der Fahrt nach Cottingdean fragte er sich, wie Sage die Neuigkeiten aufnehmen würde. Sie würde ihn nicht erwarten, da die Frist noch nicht verstrichen war, und eher mit einem Anruf als mit einem Besuch rechnen.
Sicher machte sie sich große Sorgen um ihre Mutter, und Daniel hoffte aufrichtig, alles würde sich zum Guten wenden. Er mochte und bewunderte Liz Danvers – eine charmante, ruhige, besonnene Frau. Wie hatte sie nur eine so ungestüme, quecksilbrige Tochter bekommen können?
Die Fahrt dauerte länger, als er gedacht hatte. Endlich erreichte er sein Ziel. Im Haus schien sich nichts zu rühren, aber hinter allen Fenstern brannte Licht. War Liz Danvers …?
Angespannt schaute er zum oberen Stockwerk hinauf. Wo lag Sages Zimmer? Wie mochte sie es eingerichtet haben? Er lächelte, weil er sich wie ein Schuljunge benahm, der von einem unnahbaren Idol träumte, dann parkte er das Auto und stieg aus.
Ungeduldig läutete er an der Tür, die von Faye geöffnet wurde. Als er nach ihrer Schwägerin fragte, runzelte sie die Stirn. Vorhin war sie in die Bibliothek gegangen, um nach ihr zu sehen. Wie ein Kind in einem Sessel zusammengerollt, hatte Sage tief und fest geschlafen.
Faye brachte es nicht übers Herz, sie zu wecken. Sie hatte Sages Rat befolgt und mit Camilla über die Vergangenheit gesprochen. Das Entsetzen, der Zorn, die unverhohlene Liebe des Mädchens verhalfen ihr zu vielen neuen Erkenntnissen über ihre Tochter – und über sich selbst. Dieses Kind, das sie geboren, vergöttert und beschützt hatte, war nun fast erwachsen. Manchmal hatte sie vergessen, dass Camilla von David abstammte und dessen wunderbare Einfühlungsgabe besaß, seine Warmherzigkeit, sein tiefes Verständnis für andere Menschen.
Nun erklärte Faye dem Besucher: „Leider kann Sage im Moment niemanden empfangen.“
Aber er ignorierte ihre Worte, ging an ihr vorbei, und ihr blieb nichts anderes übrig, als die Tür hinter ihm zu schließen. „Sie erwartet mich“, versicherte er.
Davon hatte Sage nichts erwähnt. Hilflos und verräterisch schaute Faye zur Bibliothekstür, was Daniel sofort ausnutzte. „Sie ist also da drin? Bemühen Sie sich nicht, ich melde mich selber an.“
„Aber Sie können nicht …“, begann sie zu protestieren. Zu spät. Er hatte bereits die Tür aufgestoßen und trat
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