Schattenjahre (German Edition)
sie zu beschwichtigen. „Wir holen ihn zurück.“
Aber wie konnten sie das? Den Behörden durften sie die Wahrheit nicht verheimlichen. Da die Geburt der Zwillinge noch nicht registriert und der Kidnapper ihr leiblicher Vater war, gab es keine Möglichkeit, ihm den kleinen Jungen wegzunehmen, ohne die ganze Angelegenheit mit unerwünschter Publicity zu belasten.
Lewis schrieb Liz und erklärte, er beabsichtige, seinen Sohn zu behalten. Sollte sie versuchen, sich des Kleinen zu bemächtigen, würde die Öffentlichkeit von ihrem Ehebruch erfahren.
Sie spürte, dass Edward beinahe froh über Nicholas’ Verschwinden war, wenn er das auch niemals zugegeben hätte. Wahrscheinlich wäre es ihm noch lieber, Lewis hätte beide Kinder mitgenommen, dachte sie bitter. Joan Palmer, von Schuldgefühlen überwältigt, ging nur zu gern auf Liz’ Vorschlag ein, mit ihrem fast pensionsreifen Mann nach Nordengland zur verheirateten Tochter zu ziehen. Er erhielt eine Abfindung, die seiner zu erwartenden Pension entsprach. Und im Dorf verbreitete sich die Nachricht, Mrs Danvers’ kleiner Sohn – von Geburt an kränklich und schwach – sei an Herzversagen gestorben.
Liz war dünner denn je. Ihre Melancholie und die Verzweiflung, mit der sie sich an ihren verbliebenen Zwilling klammerte, schienen die traurige Neuigkeit zu bestätigen. Bald erzählte man sich, sie ertrage es nicht, den Namen des toten Babys zu hören, und so wagte niemand, ihr sein Beileid auszusprechen.
Untröstlich vergrub sie sich in ihren Kummer, in ihrem Schuldgefühl, und allmählich begann Ian Holmes um ihren Verstand zu bangen. Sie konzentrierte sich so ausschließlich auf Sage, dass ersie warnen musste. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie alles zerstören, wofür sie so viel durchgemacht habe. Sie dürfe ihre Tochter nicht so unverhohlen in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen. Sonst würde Edward das Kind bald ablehnen oder sogar hassen.
Das sah Liz ein. Sie hatte bereits bemerkt, wie unangenehm Edward die Gesellschaft des Babys fand, wie angewidert er das Gesicht verzog, wenn es schrie. Er weigerte sich, das Kind anzufassen, und plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Unauffällig sorgte sie dafür, dass ihr Mann nie mit Sage allein blieb, und ließ sie fast nie aus den Augen. Nur zu deutlich erinnerte sie sich an Edwards folgenschwere Wutausbrüche und tätliche Angriffe.
In welcher Atmosphäre würde ihr Kind aufwachsen? Was hatte sie nur getan?
„Verzeih mir, mein Liebling“, wisperte sie eines Abends mit tränenerstickter Stimme über das Bettchen geneigt. „Ich wollte dich unbedingt haben, und ich war so selbstsüchtig. Vielleicht hätte dein Vater euch beide nach Australien bringen sollen. Aber gerade von dir könnte ich mich niemals trennen, weil du ihm so ähnlich bist, ein Teil von ihm …“
Niemandem hatte sie anvertraut, dass die Tochter ihrem Herzen schon seit der Geburt viel näher stand als der andere Zwilling, sogar näher als David. Nicht, weil Sage vor ihrem Bruder zur Welt gekommen war, sondern weil Liz in dem winzigen Gesichtchen sofort Lewis’ Züge erkannt hatte. Manchmal glaubte sie diese übergroße Mutterliebe kaum noch zu verkraften, und sie wagte nicht, ihre Gefühle zu zeigen, aus Angst, Edward noch mehr gegen die Kleine einzunehmen.
Immer würde Sage ihr Lieblingskind bleiben. Daran konnte Liz nichts ändern. Aber sie musste es um Sages willen verheimlichen, sogar der Tochter selbst, denn wenn die Wahrheit ans Licht kam …
Nachdem sie Nicholas verloren hatte, glaubte sie Sage zu gefährden, wenn sie irgendjemandem verriet, wie viel ihr dieses Kind bedeutete. Edward ließ schon jetzt seine Abneigung gegen das Kind erkennen. Und David? Nun, der liebte jeden. Aber wenn Edward in Wut geriet und öffentlich verkündete, er sei nicht Sages Vater …
Bei diesem Gedanken zitterte Liz vor Angst. Das durfte nicht geschehen. Und wenn er es tat, würde sie ihn verlassen, David und ihr innig geliebtes Baby mitnehmen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Alles wollte sie tun, um Sage zu schützen, selbst wenn sie sich versagen musste, aller Welt zu zeigen, was sie für ihre Tochter empfand.
Eines Morgens bemerkte Edward mürrisch: „Sage hat wieder die ganze Nacht gebrüllt. Du solltest eine Kinderfrau engagieren. Das Baby kostet dich zu viel Zeit.“
Auf diesen Wunsch war Liz schon vorbereitet. Sie verbarg ihren Zorn, ihre Angst, ihren Kummer, senkte den Kopf und erwiderte mit ruhiger Stimme: „Wenn du meinst
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