Schattenjahre (German Edition)
…“
„Ja, das meine ich“, bestätigte er kurz angebunden. Tränen tropften auf die letzte Tagebuchseite. „Oh, mein Gott – oh, mein Gott“, flüsterte Sage immer wieder und schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. All die Jahre … Und sie hatte nichts gewusst, nichts geahnt. All die Jahre war sie von ihrer Mutter beschützt, umhegt und geliebt worden. Und all die Jahre hatte Liz die Last der Wahrheit getragen, ihr Versprechen gehalten, nichts von Sages Herkunft zu verraten. Sogar nach Edwards Tod, wo sie gefahrlos ein Geständnis hätte ablegen können …
Sage ergriff das Tagebuch, rannte zur Tür und stieß sie auf. „Faye!“, schrie sie. „Faye!“
25. KAPITEL
Rastlos ging Sage in der Bibliothek auf und ab, blieb immer wieder am Schreibtisch stehen, um nachzuschauen, wie viel ihre Schwägerin schon gelesen hatte.
Als Faye erschrocken hereingestürmt war, hatte Sage, von Gefühlen überwältigt, kaum ein Wort hervorgebracht und ihr nur das Tagebuch hingehalten. „Da … Lies die letzten Seiten – bitte …“
Endlich schlug Faye das Buch zu und fragte langsam: „Und du hattest keine Ahnung?“
„Nicht die geringste. Du etwa?“
Seufzend schüttelte Faye den Kopf. „Welch eine schreckliche Bürde Liz mit sich herumtragen musste! Und ich in meiner Selbstsucht habe sie auch noch mit meinen Problemen belastet … Kein Wunder, dass dein Vater …“ Rasch verbesserte sie sich: „… dass Edward nach Davids Tod so verzweifelt war.“
Sage stimmte ihr traurig zu. „Jetzt verstehe ich das alles viel besser. Mutter wagte nicht, mir ihre Liebe zu zeigen – aus Angst, Edward gegen mich einzunehmen. Und als sie dann endlich glaubte, die Situation würde sich entspannen, weil ich erwachsen war – ausgerechnet dann musste ich mich in meinen Bruder verlieben – in meinen Zwillingsbruder.“ Sekundenlang schloss sie die Augen. „Also deshalb verstand ich mich so gut mit ihm, auf Anhieb. Ob er es weiß? Ob Lewis McLaren …“ Sie brachte es nicht fertig, ihn Vater zu nennen. Noch war die Wahrheit zu neu, zu schmerzlich. Er musste es doch gewusst haben, als sie das letzte Mal zu Scott ins Krankenhaus gegangen war. Und doch hatte er keinen Versuch unternommen, sie zu sehen.
„Wir müssen ihn verständigen“, erklärte Faye entschieden. „Darauf hat er ein Recht.“
Sage starrte sie an. „Vielleicht will er’s gar nicht erfahren. Er könnte eine andere geheiratet haben.“
„Nicht Lewis – ich meine Scott. Er muss über den Unfall deiner Mutter informiert werden.“
Mühsam schluckte Sage. „Ja – natürlich. Sie ist ja auch seine Mutter. O Faye, es ist ein so gewaltiger Schock, ich kann es nicht fassen. Was sie durchgemacht haben muss, als ich Scott damals in dieses Haus brachte – als sie merkte …“
Faye blickte auf den gesenkten rothaarigen Kopf und fragte sich, ob ihrer Schwägerin bewusst war, wie verräterisch diese Sorge um die Mutter war – nur um die Mutter, nicht um ihr eigenes Seelenleid. „Vielleicht hat Lewis McLaren seinem Sohn die Wahrheit erzählt – weil es die einzige Möglichkeit war, ihn von dir fernzuhalten.“
„Kann sein … Ich verstehe überhaupt nichts mehr, Faye. Die ganze Zeit glaubte ich, sie würde mich nicht so lieben wie David, ich würde ihr nichts bedeuten – und …“
„Und dabei warst du ihr Lieblingskind“, beendete Faye den Satz. „Es muss furchtbar für sie gewesen sein. Wie gern wollte sie dir ihre Liebe zeigen … Aber sie war gezwungen, dich vor Edwards Eifersucht zu schützen. Zu deinem Wohl musste sie ihre Gefühle verbergen. Aus ihren Aufzeichnungen geht deutlich hervor, welch große Angst sie in deinen ersten Lebensjahren hatte. Ständig befürchtete sie, Edward könnte sich anders besinnen und ihr nicht mehr erlauben, dich zu behalten.“
„Ja“, bestätigte Sage leise. „Und ich habe ihr nicht gerade geholfen. Glaubst du wirklich, wir sollten Scott benachrichtigen?“
„Ja, aber ich weiß nicht, wie. Ein Brief …“
„Oder ein Anruf“, schlug Sage vor.
„Das wäre noch besser, nur – wir kennen die Nummer nicht.“
Nach einem kurzen Schweigen erwiderte Sage: „Die habe ich.“
„Liebst du ihn immer noch?“, fragte Faye mitleidig.
Sage schüttelte den Kopf. „Nicht so, wie du’s meinst – nicht als Mann. Aber die Erinnerung an ihn tut fast so weh wie damals. Ich …“ Zögernd suchte sie nach Worten. „Ich habe ihn vermisst in all den Jahren, so wie einen Teil von mir selbst. Das führte ich stets
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