Schattenjahre (German Edition)
Aber du hast recht. Daniel bedeutet mir zu viel, als dass ich mich auf eine rein sexuelle Beziehung einlassen könnte. Es wäre zu schmerzlich, zu erniedrigend für mich, wenn es zu Ende ginge. Eine Zurückweisung kann ich nicht so leicht hinnehmen. Darin war ich nie besonders gut.“
Scott drückte sie an sich. „Als ich die Wahrheit über uns erfuhr, wäre ich am liebsten sofort zu dir gekommen. Aber Dad sagte, er habe unserer Mutter versprochen, dir nichts zu verraten. Anscheinend dachte sie, du würdest es nicht glauben und ihr vorwerfen, sie lüge, um uns zwei auseinanderzubringen. Und da war immer noch Edward …“
„Ja, sie hatte wohl recht“, seufzte Sage. Später, als sie älter gewesen und Edward gestorben war, hatte sie der Mutter keine Gelegenheit gegeben, sich ihr anzuvertrauen, und sie auch nie zu einem ernsthaften Gespräch ermuntert. Dabei hätte es Liz so sehr geholfen, sich alles von der Seele zu reden.
„Liebt er sie noch?“, fragte Sage leise.
„Ja. Er hat sie immer geliebt.“
„Aber … Warum kam er dann nicht zu ihr, als Edward tot war?“
„Ich glaube, das ließ sein Stolz nicht zu. Mutter war ziemlich grausam zu ihm. Sie behauptete, sie habe ihn nie geliebt. Deshalb sagte er sich vermutlich, beim nächsten Mal – falls es ein nächstes Mal geben würde – solle gefälligst sie zu ihm laufen, nicht umgekehrt. Vielleicht redete er sich auch ein, sie wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben.“
„Und jetzt ist er hier …“
Scott holte tief Atem. „Wärst du an seiner Stelle woanders?“
„Natürlich nicht.“
Beide schwiegen eine Weile, in Gedanken versunken, die sie miteinander teilten.
Hätte sie Scott ihr Leben lang gekannt und sich ihm stets so nahe gefühlt wie jetzt – wäre sie dann ein anderer, ein sanftmütigerer Mensch geworden? Vermutlich nicht, gestand sich Sage ein. Sie hätte versucht, Scott zu unterjochen und herumzukommandieren, wäre besitzergreifend und eifersüchtig auf alle Leute in seiner Umgebung gewesen. Deshalb sah sie sogar einen Vorteil in der Tatsache, dass sie getrennt aufgewachsen waren. Wie sie inzwischen wusste, durfte kein Mensch einen anderen besitzen oder beherrschen – nicht einmal aus Liebe. Die konnte nur in der Ergänzung zweier gleichberechtigter Partner entstehen.
Scott war ihr Zwillingsbruder, ihr zweites Ich, aber auch mit anderen Menschen eng verbunden – mit seinem Vater, seiner Frau und den Kindern. Während er von seiner Familie erzählte, hörte sie Liebe und Stolz aus seiner Stimme heraus und empfand die eigene Einsamkeit noch schmerzlicher. Immer wieder kehrte Daniel ungebeten in ihre Gedanken zurück. Daniel, der sie so wütend machte, so erregte, so entnervte – der einfach davongegangen war, ohne ihr die Gelegenheit zu einer Erklärung zu geben, ehe sie hatte versichern können, sie habe keineswegs in albernen Tagträumen von ihrer schönen Vergangenheit mit Scott geschwelgt.
Daniel … Ihre Miene verdüsterte sich, als sie spürte, wie heiß sie sich nach ihm sehnte, wie gern sie diesen besonderen Augenblick in ihrem Leben mit ihm teilen würde. Aus dieser Überlegung heraus wandte sie sich impulsiv zu Scott. „Sicher vermisst du deine Frau und deine Söhne. Du hättest sie alle mitbringen sollen.“
Sein erstaunter, erfreuter Blick erwärmte ihr Herz. „Das wollte ich. Aber Averil meinte, dies sei eine sehr schwierige Zeit für uns drei – für Vater, dich und mich, und da wolle sie nicht stören. Sie schickt dir liebe Grüße, und die Jungs können es kaum erwarten, dich kennenzulernen. Averil wusste schon vorher alles über dich, aber die Kinder … Nun, sie waren natürlich ganz aus dem Häuschen, als sie erfuhren, dass sie eine Tante in England haben.“
„Hoffentlich sehe ich sie bald.“ Sage lachte, dann wurde sie sofort wieder ernst. „Weiß Mutter von deiner Frau und deinen Söhnen?“ Für Liz musste es schrecklich gewesen sein, in all den Jahren an ihren Sohn zu denken, der in weiter Ferne lebte, womöglich verheiratet, ein Familienvater …
„Ja“, antwortete Scott, „aber sie ist ihnen nie begegnet. Dad war so verbittert wegen Mutters Verhalten, und ich fand, ich wäre es ihm schuldig, auf jeden Kontakt mit Cottingdean zu verzichten. Wir dachten alle, es wäre am besten, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.“
„Und ihr drei habt auch entschieden, einem Menschen wie mir dürfe man die Wahrheit auf keinen Fall anvertrauen“, ergänzte Sage mit gutmütiger Ironie. Es erschien ihr
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