Schattenjahre (German Edition)
kaufte die Zeitung.
„Was ist los?“, fragte ihr Bruder besorgt.
„Daniel … Ich fürchte, er ist in Schwierigkeiten. Jetzt kann ich das alles nicht erklären.“
Daniel – zum Rücktritt gezwungen … Daniel, der eigens zu ihr gekommen war, um sie über die geänderte Straßenroute zu informieren … Bis jetzt hatte sie nicht bedacht, wie heikel die Situation für ihn gewesen sein musste. Eine finanzielle Katastrophe. Sie erinnerte sich an die Old Hall, die er gekauft hatte, an das Risiko, das er eingegangen war. Wenn sie sich auch über die Rettung des Dorfs freute – sie wünschte, dieses Ziel wäre ohne so schwerwiegende Nachteile für Daniel erreicht worden.
Nach dem Straßenlärm lag in der Stille der Intensivstation eine beklemmende Atmosphäre wie ein Hinweis auf den schmalen Grat, der sich hier immer wieder zwischen Leben und Tod dahinzog.
Liz lag in einem Privatzimmer am Ende des kurzen Korridors, und Lewis hielt bei ihr Wache. Er wirkte erschöpft, aber auch glücklich, als er den Raum verließ, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. „Alles in Ordnung“, verkündete er erleichtert. „Sie hat mich erkannt …“ Tränen glänzten in seinen Augen. „Sie bekam ein Beruhigungsmittel, und jetzt schläft sie. Aber sie müsste bald aufwachen. Ich habe mit dem Spezialisten gesprochen, und er meint, sie sei körperlich in guter Verfassung. Nach der Entfernung des Blutgerinnsels zweifelt er nicht mehr an ihrer Genesung. Zuvor bestand die Gefahr, dieses Gerinnsel könnte sich als inoperabel entpuppen. Jetzt ist es nur mehr eine Frage der Zeit …“
„Dürfen wir sie sehen?“, unterbrach Sage ihn aufgeregt.
Er schien zu spüren, dass sie sich mit eigenen Augen vom Wohlergehen ihrer Mutter überzeugen musste, ehe sie daran zu glauben vermochte, denn er nickte. „Aber nur für ein paar Minuten!“, mahnte er.
Seltsam – ausgerechnet sie, die autoritäres Verhalten immer gehasst hatte, erkannte die Autorität dieses Mannes bereitwillig an, fand sie sogar amüsant wie die kleine Schwäche eines Menschen, die man tolerant und liebevoll betrachtet.
Liz hatte die Augen geschlossen. Klein und reglos lag sie unter dem gestärkten weißen Laken und erinnerte Sage an den Augenblick, als sie die Mutter zum ersten Mal hier in der Klinik gesehen hatte – viel zu direkt mit der Tatsache der Sterblichkeit konfrontiert. So wie damals wurde sie auch jetzt von einer heißen Welle aus Liebe und Angst durchströmt, aber inzwischen waren ihre Gefühle gereift, von neuen Erkenntnissen durchdrungen.
Ich habe ziemlich lange gebraucht, um diese Reife zu erreichen, dachte sie grimmig. Zu lange … Und Mutter hatte so viel Geduld mit mir … Aber große Liebe ist stets zu Opfern und Zugeständnissen bereit.
Ohne es zu wissen, hatte sie Liz’ Hand ergriffen. „Ich liebe dich, Ma“, wisperte sie zögernd und sprach unwillkürlich zum ersten Mal den Kosenamen aus, den nur David der Mutter gegeben hatte.
Bildete sie sich das nur ein, oder hatte sich die stille Hand unter ihren Fingern wirklich bewegt? Forschend blickte sie in das blasse Gesicht und hielt den Atem an. Liz’ Wimpern flatterten, die Lider hoben sich, und Sage schaute endlich wieder in die vertrauten grauen Augen. Aber wo sie zuvor nur Kälte, Missbilligung und Lieblosigkeit gelesen hatte, sah sie nun Liebe und Sorge – Gefühle, die früher hinter eiserner Selbstkontrolle versteckt worden waren.
„Ich liebe dich, Ma“, wiederholte Sage. „Aber wenn du jemals wagen solltest, uns wieder so was anzutun, werde ich dir nie verzeihen.“
„Gehen wir, Sage?“, fragte Scott.
Da nur eine Person bei Liz bleiben durfte, hatten sie einstimmig beschlossen, es wäre nur fair, dieses Privileg Lewis zu überlassen.
Falls Sage diesbezüglich irgendwelche Zweifel gehegt hatte, so verflogen sie restlos, als sie das Gesicht der Mutter beobachtete, die ihre Augen öffnete und Lewis neben sich stehen sah.
Scott wartete, um Faye und Camilla nach Cottingdean zurückzufahren. Dort würde er mit seinem Vater bis zu Liz’ Entlassung aus dem Krankenhaus wohnen.
„Ich komme nicht mit“, erklärte Sage, „weil ich noch was erledigen möchte. Ich muss jemanden sehen …“ Unter ihrem Arm steckte immer noch die Zeitung, und sie warf einen verräterischen Blick darauf.
Ihr Bruder nickte verständnisvoll. „Du gehst also zu ihm.“ „Ja.“ Das Missverständnis, das sie mit Daniel entzweit hatte, wollte sie nicht erwähnen. Es genügte, wenn Scott über ihre Liebe
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