Schattenjahre (German Edition)
ein Sandkorn auf einer ansonsten glatten Fläche, irritierend, herausfordernd, so faszinierend, dass sie Alexis Antwort überhörte.
Plötzlich ärgerte sie sich über ihn, genauso wie über sich selbst. Sie machte sich nichts aus ihm, wahrscheinlich hatte er ihr nie etwas bedeutet. Welch ein schroffer Kontrast zwischen ihrem Verhalten und der Handlungsweise des unerfahrenen Mädchens in den Tagebüchern … Mochte sie auch mit vielen Fehlern behaftet sein – Selbsttäuschung gehörte nicht dazu. Sie maß sich an ihrer Mutter, wie so oft in den Jugendjahren. Und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie wenig sie dem Standard der Mutter und den eigenen Idealen entsprach.
Alexi interessierte sie nicht. Warum trieb sie dann dieses unnötige, nutzlose Spiel mit ihm? „Es hat keinen Sinn“, erklärte sie ihm entschieden. „Ich fahre nicht nach London zurück. Und selbst wenn ich dort wäre, würde ich in meiner eigenen Wohnung schlafen. Such dir eine andere, Alexi, es ist vorbei.“
Aus der Leitung tönte wütender Protest, und als die Flüche und Beschimpfungen die erträglichen Grenzen überschritten, beendete sie das Gespräch, indem sie einfach den Hörer auflegte. Danach merkte sie, dass sie zitterte. Nicht zum ersten Mal grollte ihr ein Mann – nicht zum ersten Mal war sie beleidigt worden, so wie eben von Alexi. Aber zum ersten Mal fand sie in solch bösen Worten eine gewisse Berechtigung. Sie allein trug die Verantwortung für diese Szenen.
Sie trat in die stille, halbdunkle Halle. Vor der Bibliothekstür blieb sie stehen. Ihre Finger näherten sich der Klinke, ehe sie merkte, was sie tat. Wenn sie jetzt wieder zu lesen anfing, würde sie in dieser Nacht vermutlich keinen Schlaf finden. Am nächsten Morgen wollte sie ihre Mutter im Krankenhaus besuchen, in ihrem Büro anrufen, um sich die Post nach Cottingdean schicken zu lassen. Es war ein langer, traumatischer Tag gewesen. Ihr Körper wies sie darauf hin, auch wennihr Verstand all die Schwierigkeiten leugnete.
Sage wandte sich von der Tür ab. Die Tagebücher würden nicht über Nacht verschwinden. Immerhin warteten sie schon seit über vierzig Jahren. Vierzig Jahre … Welche Enthüllungen mochten die vielen Seiten noch enthalten.
Die erste Liebesaffäre ihrer Mutter – so ehrlich und qualvoll und anschaulich geschildert, dass Sage beinahe glaubte, dies alles selbst erlitten zu haben … Nie hätte sie sich träumen lassen … Und nun suchten ihre Fragen nach Antworten, die sie halb und halb fürchtete. Die wichtigste Frage lautete: Warum hatte die Mutter beschlossen, ihre Vergangenheit preiszugeben, eine Tür zu den tiefsten Geheimnissen ihres Lebens zu öffnen – ausgerechnet dem Menschen, der mehr Grund als alle anderen hatte, ihr wehzutun?
Wollte sie damit sagen: Sieh doch, auch ich habe gelitten, habe Schmerz, Demütigungen und Ängste gekannt?
Aber warum jetzt, nach all den Jahren? Spielte es keine Rolle mehr, weil Liz zu sterben erwartete?
Auf halber Höhe der Treppe blieb Sage abrupt stehen. Sie wollte, dass ihre Mutter weiterlebte. Und dieser Wunsch entsprang keineswegs dem selbstsüchtigen Widerstreben, die Bürde von Cottingdean und der Spinnerei zu übernehmen. Diese Last würde ohnehin auf andere Schultern fallen. Camilla war die Erbin, die Enkelin, die Liz für alles entschädigte, worin die Tochter versagt hatte.
Sage wollte die Mutter aus anderen Gründen nicht verlieren, und sie gelangte zu einer überwältigenden Erkenntnis – in ihrem gereiften, unabhängigen, vierunddreißigjährigen Ich existierte immer noch ein angstvolles kleines Mädchen und sehnte sich verzweifelt nach der Sicherheit, die nur die Gegenwart der Mutter bieten konnte.
In dieser Nacht schlief Sage schlecht, verfolgt von einem alten Albtraum, der sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder heimsuchte. Unablässig versuchte sie, den geliebten Mann zu erreichen. Er stand am Ende eines langen, dunklen Pfads. Und wann immer sie auf ihn zugehen wollte, traten andere Gestalten aus den Schatten und versperrten ihr den Weg.
Früher waren es vertraute Gesichter gewesen – die Mutter, der Vater, manchmal David. Aber diesmal wurde sie von Fremden aufgehalten. Und am Ende des Pfads wartete nicht der Geliebte, sondern die Mutter, deren reglose Züge Sage ganz deutlich erkannte, die ihr nun entgegenkam.
In ihrem Traum empfand sie so ungeheure Erleichterung, dass ihr beinahe schwindelte. Doch während sich die Schemen verdichteten und eine immer undurchdringlichere
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