Schattenjahre (German Edition)
kategorisch verlangt, Sage müsse sofort ans Telefon geholt werden. Er konnte sehr anspruchsvoll sein. Trotz seiner Bildung und weltgewandten Haltung glaubte er im Grunde seines Herzens immer noch, der Mann stünde turmhoch über der Frau und es wäre deren Pflicht, alle seine Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen.
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Sage. Sie stand auf, legte das Tagebuch in die Schublade und versperrte sie automatisch.
Wie erwartet, klang Alexis Stimme sehr erbost, als sie den Hörer ans Ohr hielt. „Du sagtest, du würdest anrufen!“, klagte er. „Wo warst du?“
Zu Sages Charakter zählte ein gewisser Starrsinn, ein kindlicher Wesenszug, den sie längst überwunden zu haben glaubte. Aber jetzt kam er wieder zum Vorschein, herausgefordert von Alexis arrogantem Tonfall. „Ich sagte, ich würde versuchen, dich anzurufen“, verbesserte sie ihn. „Zufällig war ich zu beschäftigt. Tut mir leid, dass ich unser Rendezvous so kurzfristig abblasen musste.“ Sie hörte, wie er wütend nach Luft schnappte. Offenbar hielt er sein Temperament nur mühsam im Zaum, und sekundenlang empfand sie spöttische Verachtung.
Armer Alexi – er musste sie schon sehr begehren, wenn er bereit war, ihre Eigenwilligkeit zu dulden. Aber seine Toleranz würde nicht weit reichen, da machte sich Sage nichts vor. Er wollte sie haben, und er beabsichtigte, sie zu beherrschen, zu unterjochen. Sicher war er ein kraftvoller, dominanter und äußerst selbstsüchtiger Liebhaber und würde ihre Sehnsucht nach seinenLiebeskünsten, ihren brennenden Wunsch, ihm Befriedigung zu schenken, für selbstverständlich halten. Natürlich ließ er sich anfangs dazu herab, ihr zu schmeicheln, sie zu verwöhnen. Aber sobald sie mit ihm im Bett liegen würde …
Dieses Spiel hatte sie schon oft gespielt. Und plötzlich ekelte ihr davor, als würde eine einstige Lieblingsspeise gallebitter in ihrer Kehle hochsteigen. Warum? Wegen der unschuldigen Ergüsse eines naiven Mädchens, das sie an die eigene Jugend erinnerte – an die Frau, die sie jetzt war? Oder zeigten sich einfach nur die Auswirkungen der Zeit mit ihrem eher kühlen sexuellen Klima, mit der stetig wachsenden Zahl von Singles, die nach materialistischen Werten strebten?
Woran immer es liegen mochte – sie erkannte, wie langweilig sie dieses Spiel mit Alexi fand. Dazu kam eine gewisse Abneigung gegen sich selbst, denn wie sie wusste, hätte sie irgendwann mit ihm geschlafen – nur, um ihm zu beweisen, dass er sie weder im Bett noch außerhalb beherrschen konnte, und gewiss nicht aus unbezähmbarer Begierde. Sie versuchte sich zu entsinnen, wann sie das letzte Mal so empfunden und den Sexualakt als Mittel benutzt hatte, ihre Macht über einen Mann zu demonstrieren – und ihre Macht über die Mutter, über deren strenge Moralbegriffe. War das alles, was dahintersteckte? Hatte sie sich wegen jener verzweifelten verlorenen Liebe in eine Frau verwandelt, die ihren sexuellen Appetit so beiläufig stillte wie ihre Hungergefühle? War es ein Ausdruck der Herausforderung, das Bestreben, die Mutter absichtlich zu schockieren und zu verletzen?
„Sage, bist du noch da?“ Nun bemühte sich Alexi nicht länger, seinen Zorn zu verbergen. Früher hätte sie in solchen Situationen ihr kleines, triumphierendes Lächeln aufgesetzt, das schon mehrere Liebhaber in helle Wut gebracht hatte. Jetzt akzeptierte sie gleichmütig, dass sie ihn geärgert hatte – so, als würde es ihr überhaupt nichts ausmachen. Und genauso ist es vermutlich, dachte sie müde. Sie spürte einen bitteren Geschmack im Mund, eine plötzliche heftige Abneigung gegen das Leben und alles, was damit zusammenhing. „Ja, ich bin noch da. Tut mir leid, wenn du mir böse bist. Ich hätte dich anrufen sollen, aber …“
„Ich will nicht deinen Anruf, Sage, sondern dich – hier bei mir, in meinem Bett. Du weißt, wie fantastisch es mit uns beiden wäre. Ich komme jetzt nach Cottingdean und fahre mit dir zusammen nach London zurück. Deine Schwägerin erzählte mir, der Zustand deiner Mutter sei stabil. Also kannst du da unten nichts für sie tun. Lass mich für dich sorgen, Sage. Außerdem bist du hier näher beim Krankenhaus. Ich sehne mich so nach dir.“ Seine tiefe Stimme klang samtweich. Er weiß, wie man Frauen umgarnt, dachte sie geistesabwesend,
„Das ist unmöglich, Alexi. Ich werde auf Cottingdean gebraucht.“ Oder ich will hierbleiben, fügte sie in Gedanken hinzu. Diese Entdeckung erschien ihr wie
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