Schattenjahre (German Edition)
ihr Gesicht in jenen Sekunden nicht gesehen hatte und neben all seinen anderen Problemen nicht auch noch mit dem ungläubigen Entsetzen seiner Frau fertig werden musste. Wie konnte man einen so vernachlässigten, halb verfallenen Haufen aus Steinen und Dachziegeln lieben?
„Haus Cottingdean!“, verkündete Edward triumphierend. Offenbar sah er das Anwesen mit anderen Augen als Lizzie, nahm den desolaten Zustand der Gebäude, die eingesunkenen Dächer, die feuchten, von Flechten überwachsenen Mauern nicht wahr.
Der Weg endete an einem offenen, altersschwachen hölzernen Doppeltor, das – in eine Gartenmauer eingelassen – Edward zu verwirren schien. Er starrte es an, während Lizzie ihre Bestürzung zu verbergen suchte. Diese Ruine zwischen üppig wucherndem Unkraut, umgeben von ertraglosen, armseligen Äckern, war also das Paradies, das ihr Mann so begeistert beschrieben hatte, das Paradies, wo ihr Kind aufwachsen sollte.
Sie traute ihren Augen nicht, schaute Edward an und erwartete, seine Miene würde ihre eigene Enttäuschung widerspiegeln. Doch er schien die Zeichen des Verfalls nicht zu bemerken. „Cottingdean! Endlich! Das Tor sieht ein bisschen mitgenommen aus, aber jetzt, nach dem Krieg, wird sich vieles ändern.“
Lizzie staunte, weil er an so etwas denken konnte. Ihre eigene Sorge galt den unmittelbaren Bedürfnissen. Sie brauchten etwas zu essen. Und wo sollten sie die Nacht verbringen? Sicher nicht in dieser unbewohnten Ruine. Wo mochte das Ehepaar sein, das sich laut Edward um dasHaus kümmerte? Sie hatte geglaubt, der Luxus dieses Gebäudes, die historischen Traditionen, das zahlreiche Personal würden sie überwältigen. Doch ihr neues Heim war offensichtlich nur eine leere Hülle.
„Ich frage mich, was aus den Johnsons geworden ist.“ Edward runzelte die Stirn, als Lizzie den Rollstuhl die von Unkraut überwachsene Zufahrt hinter dem Tor entlang schob. „Kit sagte mir, die beiden würden hierbleiben, bis er das Haus verkauft hätte. Zu Beginn des Kriegs wurde es requiriert, aber nie benutzt. Seit dem Tod meiner Großmutter hat keiner meiner Angehörigen hier gelebt.“
Erkannte er nun den gewaltigen Unterschied zwischen seinen Erinnerungen und der Realität? Plötzlich empfand sie den fast mütterlichen Wunsch, ihn zu beschützen, damit er sich noch ein bisschen länger an seine Träume klammern konnte. Nur zu gut wusste sie, wie weh der Verlust solcher Träume tat. Sie selbst fand jetzt nur noch bei Kits Kind Trost.
Beim Anblick der sperrangelweit geöffneten Haustür wurde ihr das Herz schwer. Nein, hier wohnte schon lange niemand mehr, was immer man Edward erzählt haben mochte. Sie brachte den Rollstuhl zum Stehen und vermutete, nun würde ihr Mann vorschlagen, ins Dorf zurückzukehren und ein Nachtquartier zu suchen. Aber er schwieg, und sie trat vor ihn hin, um ihn anzuschauen. Sein Gesicht verzerrte sich, als wäre er ein entsetztes, verzweifeltes Kind. „Ich begreife das nicht. Wo sind die Johnsons? Warum ist niemand da? Das Haus wirkt fast verlassen …“
Aus seiner Stimme hörte sie deutlich die flehende Bitte heraus, sie möge ihm widersprechen, doch das konnte sie nicht. Und sie brachte es auch nicht fertig – obwohl es nötig gewesen wäre –, ihm zu sagen, sie müssten ins Dorf zurück, es sei sinnlos, hineinzugehen, wo nur weitere Enttäuschungen warten würden. Stattdessen hörte sie sich fröhlich antworten: „Nun, dann wollen wir uns mal drinnen umsehen.“
Spinnweben überzogen das morsche Holz der Haustür. Dahinter lag eine dunkle Halle mit Steinfliesen – so düster, von einem so abscheulichen Modergestank erfüllt, dass Lizzie unwillkürlich zurückschreckte. Die Schwangerschaft hatte ihren Geruchssinn geschärft, und dieser Angriff auf ihre empfindliche Nase jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Es roch nach Verfall und Tod, nach versteckten, unterirdischen, von Licht und Wärme abgeschnittenen Räumen.
Aber Edward wollte offenbar hineingebracht werden, und so schob sie den Rollstuhl weiter. Dabei bemerkte sie den Grund der Finsternis. Nachlässig befestigte Verdunkelungsvorhänge verdeckten die Fenster. Als sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnten, sah sie die Umrisse eines großen steinernen Kamins. An der gegenüberliegenden Wand führten Stufen zu einer Galerie hinauf. Die Holztäfelung verrottete, einzelne Paneele waren herausgerissen. Mehrere Türen gingen von der Halle ab.
Während Lizzie sich umschaute, rannte eine große Ratte über den
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