Schattenjahre (German Edition)
Oberschwester – nur noch Edward würde ihren Lebensweg lenken.
Armer Edward … Wie konnte er das, wo es doch offensichtlich war, wer sich in dieser Ehe auf wen stützen würde? Wieso ihr das auf einmal klar wurde, konnte sie nicht ergründen. Anscheinend war die Erkenntnis allmählich aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche gedrungen. Von nun an würde sie die Verantwortung für drei Leben tragen. Und sie erinnerte sich an eine simple Wahrheit, auf die ihre Eltern und ihre Tante so oft hingewiesen hatten: Nichts auf der Welt bekommt man umsonst. Für alles musste man einen Preis zahlen. Das Schicksal hatte ihr Kit geschenkt, dann sein Leben dafür gefordert und ihr sein Kind überlassen – ein Bonus. Und es gönnte ihr auch noch Edward, den respektablen Status einer Ehefrau und ein Heim, Zukunftsaussichten für ihr Baby. Diese Zukunft würde sie allerdings erst gestalten müssen. Dass sie dies durfte – dafür würde sie wieder einen Preis zahlen und ihre Pflichten Edward gegenüber getreulich erfüllen. Sie würde ihn umsorgen und schützen, Cottingdean in den Traum zurückverwandeln, der ihn stets begleitet und sich jetzt als Illusion erwiesen hatte.
Woher all diese Gedanken kamen, wusste sie nicht, und es waren auch nur vage, nebelhafte Vorstellungen, die ihr durch den Sinn gingen wie Wolkenschleier, während sie das Feuer schürte. Später lief sie hinaus, um den Rauch zu prüfen, der aus dem Schornstein quoll, sprach mit Edward, versicherte, bald würde es warm in der Küche sein, stieg die Treppe hinauf und suchte nach Matratzen. Sie hoffte, der Herd würde den Wasservorrat im Waschküchenboiler erhitzen. Wenn nicht, wollte sie die großen Kessel auf dem Tisch benutzen. Hinter der Waschküchentür hatte sie bereits einen Holzbottich entdeckt.
Mit all diesen praktischen Aktivitäten beschäftigt, nahm sie ein Gefühl wahr, das in ihr wuchs – so intensiv, dass sie sich fragte, ob es eher von der Schwangerschaft als von ihrem eigenen Wunsch geweckt worden war. Dieses Gefühl glich einer inneren Stimme, die ihr befahl, ihr Lebenselbst in die Hand zu nehmen, Kräfte zu sammeln, um allen weiteren Schicksalsschlägen trotzen zu können. Dazu kam die sonderbare Überzeugung, ihre Fähigkeit, dem Gebot zu gehorchen, würde irgendwie mit diesem verfallenen Haus zusammenhängen. Wenn sie ihm neues Leben einhauchte, würde es ihr auch gelingen, ihr Leben unter Kontrolle zu bringen, die Trauer um Kit zu überwinden.
Dachte sie das nur um des Kindes willen, das einmal Cottingdean erben würde? Spürte sie seinetwegen den Wunsch, dieses Haus in altem Glanz erstrahlen zu lassen und lieben zu lernen? Oder war das alles nur ein närrischer, unerfüllbarer Tagtraum?
Sie konnten die Schlafzimmer nicht benutzen und mussten in der Küche übernachten, auf Matratzen, die Lizzie im Oberstock gefunden und über dem Herd von der feuchten Kälte befreit hatte. Ihre Gedanken ließen ihr noch keine Ruhe. Sie lag unter ihren eigenen Decken, während Edward in einiger Entfernung schlief, und erinnerte sich an seinen ungeschickten Versuch einer Umarmung. Es war nur aus Dankbarkeit geschehen, nicht aus Begierde – das wusste sie. Trotzdem hatten seine trockenen Lippen auf ihrer Wange heftigen Ekel erregt, und es war fast unmöglich gewesen, ihre Gefühle zu verbergen …
Während sie jetzt an den kleinen Zwischenfall dachte, erschauerte sie unwillkürlich. Ihre Reaktion auf Edwards Berührung bestätigte sie in der Überzeugung, wie angenehm es sein würde, von den sexuellen Aspekten der Ehe verschont zu bleiben.
Welch ein Glück, dass ich Edward gefunden habe, überlegte sie naiv, dass ich einen so gütigen, rücksichtsvollen Mann gefunden habe, der mein Kind als sein eigenes akzeptiert und uns beiden ein Heim bietet … Und was ihr fast ebenso wichtig erschien – niemals würde er ihre mangelnde sexuelle Lust kritisieren, so wie Kit es getan hatte.
Die Ehe begann nicht gerade auf konventionelle Weise. Trotzdem beschloss Lizzie, ihrem Mann eine gute Frau zu sein, ihm alle Fürsorge zu schenken, die er brauchte, ihn zu lieben und zu ehren, selbst wenn zu dieser Liebe niemals Leidenschaft gehören würde. Ehe sie endlich einschlief, nahm sie sich ganz fest vor, alles zu tun, um Edward ihre Dankbarkeit zu zeigen. Irgendwie würden sie Mittel und Wege finden, um Cottingdean wohnlich zu gestalten, in ein richtiges Heim zu verwandeln, in ein Heim voller Wärme und Liebe. Ihr Kind sollte ein Zuhause finden, so wie sie selbst es
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