Schattenjahre (German Edition)
Was wusste sie schon von Kit? Sie würde sich auf die Informationen verlassen müssen, die Edward ihr geben konnte. Aber er beabsichtigte, das Kind als sein eigenes großzuziehen. Das hatte er bereits erklärt, und sie war zu betäubt von ihrem Schock gewesen, zu verzweifelt über Kits Tod, um zu protestieren.
„Wenn wir nicht heiraten, werden die Leute reden“, hatte Edward sie gewarnt. Nun erschauerte sie, während sie in dem dünnen Baumwollkleid, das er ihr gekauft hatte, vor der Kirchentür an seiner Seite stand. Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Sie war schrecklich verlegen gewesen, als er ihr das Geld gegeben und sie gedrängt hatte, ein hübsches Brautkleid auszusuchen. Und sie war nahe daran gewesen, ihm zu sagen, sie würde sein Geschenk lieberverwenden, um etwas für das Baby zu kaufen. Aber ein ungewohnter weiblicher Instinkt mahnte sie zur Vorsicht, und sie schwieg. Das einzige Kleid, das sie gefunden hatte, war zu groß, aus billigem, dünnem Stoff, kein Schutz vor dem heulenden kalten Wind auf dem kleinen Friedhof.
Als sie den Rollstuhl an den Zuschauerreihen vorbeischob, merkte sie plötzlich, wie trostlos und melancholisch ihre Umgebung wirkte. Stumm zeugten die Grabsteine von vergangenen Generationen. Kit hatte keinen Grabstein. Nichts markierte seinen viel zu kurzen Erdenaufenthalt. Sie fröstelte wieder und wandte sich impulsiv an Edward. „Gibt es in Cottingdean eine Kirche? Könntest du irgendeine kleine Gedenkstätte für Kit errichten lassen?“
Er tätschelte ihre Hand, sein Mitleid kämpfte mit seiner Eifersucht. Wie jung sie war, wie verletzlich … Und in ihrer jugendlichen Naivität erkannte sie noch immer nicht, wie Kit wirklich gewesen war. Beinahe konnte er in ihrem Herzen die Absicht lesen, das Bild seines Vetters darin zu bewahren. Trotz seines Todes würde Kit sein Leben beherrschen.
Edward war nicht grausam. Die harten Schicksalsschläge, die ihn getroffen hatten, lehrten ihn Verständnis für die Schwächen anderer. Lizzie war jung und formbar. Und viel wichtiger: Sie erwartete das Kind, das eines Tages Cottingdean erben würde. Er wollte sich ihr nicht entfremden, ihren Traum nicht zerstören, ihr nicht wegnehmen, was sie vielleicht als lebensnotwendige Stütze brauchte. Aber er würde keineswegs erlauben, dass dieses Kind – sein Kind – voller Bewunderung für ein fiktives Bild seines Vetters aufwuchs.
Sein Kind … Das würde Kits Sohn oder Tochter sein, in allen Belangen, die eine Rolle spielten. Er musterte seine junge Frau. Später würde er genug Zeit finden, um ihr klarzumachen, dass niemand außer ihnen beiden von der wirklichen Herkunft des Kindes wissen durfte. Genug Zeit … Er liebte sie, und vielleicht – irgendwann …
Eine Hochzeitsfeier fand nicht statt. Die Lebensmittel wurden rationiert, und die Oberschwester der Klinik war wütend, weil sie glaubte, Lizzie hätte sich nicht nur auf raffinierte Weise vor der selbst verschuldeten Schande gerettet, sondern wäre auch noch unverdientermaßen in eine höhere Gesellschaftsschicht aufgestiegen. Edward Danvers mochte ein Invalide sein und kaum einen Penny besitzen, aber er gehörte nach wie vor zur Elite, zur mysteriösen Hierarchie der oberen Klasse. Die Oberschwester verachtete Lizzie. Das Mädchen hatte kein Rückgrat, war immer viel zu sanft mit den Patienten umgegangen. Trotzdem hatte es dieses schamlose hinterhältige Ding irgendwie geschafft, einen dieser Männer zu heiraten …
Sie verließen die Klinik mit nur zwei Gepäckstücken, Edwards altem, abgewetztem Lederkoffer, der immer noch die Initialen seines Vaters aufwies, und einem ähnlichen, der nicht von Lizzies Vater, sondern von Lady Jeveson stammte. So wie das dicke Tweedkostüm, das sie vor der Kälte schützte.
Das einzige Taxi des Dorfes brachte sie zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig drängten sich amerikanische Soldaten mit ihren Freundinnen – hübschen Mädchen, die schimmernde amerikanische Nylonstrümpfe trugen und die Lippen grellrot bemalt hatten. Der Zug war überfüllt, sogar in dem Erste-Klasse-Waggon, auf dem Edward bestanden hatte. Nie zuvor war Lizzie erster Klasse gefahren. Sie hatte erwartet, ihre Mitreisenden würden den Leuten gleichen, die Tante Vi manchmal besuchte – steife, hochnäsige Witwen mit eingeschüchterten Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkeln und Hunden, die besser behandelt wurden als die Kinder. Aber die Insassen des Abteils waren zwei amerikanische Soldaten mit ihren Mädchen. Einer erinnerte
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