Schattenjahre (German Edition)
geschüttelt, das wundervolle Bild seines Vetters, das Liz in ihrem Herzen bewahrte, unangetastet zu lassen. „Sie ist eine intelligente junge Frau. Früher oder später wird sie die Wahrheit herausfinden. Kit war keineswegs beliebt im Dorf. Vorerst halten die Leutenoch den Mund, aber irgendwann werden sie reden. Er kam oft hierher, schleppte Frauen mit …“ Angewidert hatte der Doktor das Gesicht verzogen. „Klar, es war Krieg, und die Soldaten, die unter diesem starken Druck standen, mussten sich entspannen. Aber was Kit trieb …“
Trotzdem beabsichtigte Edward, seiner Frau die Illusionen so lange wie möglich zu erhalten. Woraus sollte die Ärmste denn ihre Kraft schöpfen?
Nun musterte er ihre geröteten, vom Schrubben geschwollenen Hände, die zerkratzten Finger. Einen ganzen Nachmittag lang hatte sie im einstigen Gemüsegarten das dichte Gestrüpp durchforstet, um Himbeeren zu pflücken. Das erinnerte ihn an die weichen weißen Hände seiner Großmutter und seiner Mutter, und er verfluchte sich selbst. „Ich werde Peter Allwood schreiben“, versprach er. „Seit den Lebzeiten meines Urgroßvaters arbeiten nur Anwälte aus Peters Familie für die Danvers. Aber mach dir keine zu großen Hoffnungen, Liebes.“ Er verschwieg, dass Kit wahrscheinlich jedes einigermaßen wertvolle Stück Land verkauft hatte. Das mochte der Grund sein, warum für die Rieselwiesen keine Pacht mehr gezahlt wurde. Doch er wollte erst einmal abwarten, um Liz nicht überflüssigerweise zu enttäuschen.
Die Entdeckung der Rieselwiesen veranlasste sie, einen Rundgang über die Ländereien zu unternehmen. An einem frühen Nachmittag vergewisserte sie sich, dass Edward es möglichst bequem hatte, dann brach sie auf. Sie hatte ihr Bestes getan, um die Bibliothek herzurichten, aber nichts konnte Edward dazu bringen, den Raum zu benutzen. Er klagte über die Kälte und zog die Nähe des Herdfeuers vor, obwohl er es hasste, praktisch nur in der Küche wohnen zu müssen. Die war nach seiner Ansicht für Dienstboten bestimmt, und Liz vermutete, dass er früher kaum einen Fuß hineingesetzt hatte.
Mittlerweile zeigte sich ihre Schwangerschaft, und zwar umso deutlicher, weil sie abgesehen von ihrem Bauch sehr schlank geblieben war. Lebensmittel und Geld waren knapp, und es tat ihr in der Seele weh, den Gemüsegarten brachliegen zu sehen. Sie hatte Mrs Lowndes überredet, ihr ein paar Hühner zu verkaufen. Doch vorerst weigerten sich diese launischen Vögel, Eier zu legen. Sie fürchtete, die Kosten für das Hühnerfutter würden letzten Endes den durch die Eier erzielten Gewinn übersteigen. Was die Ziegen betraf, zog sie diskrete Erkundigungen ein. Leider schien kein Einheimischer zu wissen, wo man solche Tiere erwerben konnte. Mrs Lowndes hatte erklärt, Mrs Danvers solle am besten ihren eigenen Schäfer fragen.
Das überraschte Liz. Sie war dem jungen Vic nur ein einziges Mal begegnet. Drei Tage nach ihrer Ankunft, von der er offenbar gerüchteweise erfahren hatte, war er ins Haus gekommen. Aufgrund von Edwards Erzählungen hatte sie sich den Schäfer als knorrigen Greis vorgestellt. Nun betrachtete sie erstaunt den hochgewachsenen dunkelhaarigen Fremden, nur wenige Jahre älter als sie. Zunächst eingeschüchtert von seiner Größe und den breiten Schultern, wich sie automatisch zurück, als er in der hinteren Küchentür auftauchte. Vorübergehend vergaß sie ihren Status einer Ehefrau und werdenden Mutter und fühlte sich irgendwie bedroht von diesem kräftigen, offenbar kerngesunden jungen Mann.
Als er unsicher nach Edward fragte, bat sie ihn notgedrungen herein, hielt aber neben dem Rollstuhl Wache wie eine Löwin, die ihr Junges beschützen muss. Vic, der von Frauen ebenso wenig verstand wie sie von Männern, spürte instinktiv, dass ihre stumme Aggression nur Angst verbarg – Angst um ihre eigene Person und Groll angesichts seiner kraftstrotzenden Gestalt und ihres invaliden Ehemanns.
Schon früh verwaist, war Vic bei seinem Großvater aufgewachsen, der ebenfalls als Schäfer für die Danvers gearbeitet hatte. Den Großteil seiner Zeit verbrachte Victor bei der Herde und den Hunden, fern von seinen Altersgenossen. Vom Großvater lernte er alles, was man von diesem Beruf wissen musste. Und der alte Mann entdeckte schon bald eine besondere Begabung seines Enkels. „Der Junge ist ein Naturtalent“, hatte er vor seinen Freunden bei seinen seltenen Besuchen im Gasthof „Lamb“ geprahlt. „Der Junge hat ein ganz besonderes
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