Schattenjahre (German Edition)
das störte ihn nicht.
Als Jancis ihn verlassen hatte, war er aus dem großen, unkomfortablen, gemeinsam gekauften Haus ausgezogen. Nun wohnte er in einem kleinen Apartment, in dem er sich nicht heimisch fühlte. Doch das spielte keine Rolle, da er sich ohnehin nur sporadisch dort aufhielt. Wenn er manchmal aus tiefem Schlaf erwachte und sich nach einer Frau an seiner Seite sehnte, musste er nur an die katastrophale Ehe mit Jancis denken, an die Realität moderner Beziehungen. Die beinhalteten nur selten jene geistige Intimität und Einheit, von der seine keltische Seele hin und wieder träumte.
Erst um acht Uhr morgens verließ er die Klinik. Der Operierte, das Opfer einer Messerstecherei, lag auf der Intensivstation. Eine lange Narbe würde von der Verletzung zeugen – sonst nichts. Er konnte von Glück reden; nur um Haaresbreite hatte das Messer innere Organe verfehlt, sonst wären Schäden entstanden, die sogar den tüchtigsten Chirurgen vor eine unlösbare Aufgabe gestellt hätten. Es gab immer noch viel zu lernen über den menschlichen Körper, so vieles, das Alaric frustrierte und ärgerte, ihm seine Unfähigkeit vor Augen führte, allen zu helfen, die ihm überantwortet wurden. Zum Beispiel die Frau da oben …
Nie hätte er geglaubt, sie würde überleben. Trotzdem würde sie bald kräftig genug für eine Operation sein, bei der dieser quälende Druck von ihrem Gehirn genommen werden sollte. Was mochte es sein, das manchen Menschen einen unbezähmbaren Lebenswillen schenkte, und sollten die Verletzungen noch so schlimm sein, während andere …?
Seufzend trat er ins Freie. Ein perlenheller Himmel versprach einen klaren Tag. Als er in sein billiges Auto stieg, das er seit vier Jahren benutzte, fiel ihm ein, dass er seine Mutter schon lange nicht mehr besucht hatte. Sie lebte jetzt an der Südküste, in einer kleinen, verschlafenen, friedlichen Stadt, zum Großteil von Pensionären bewohnt. Alaric fand die Atmosphäre dort ein bisschen deprimierend, aber seine Mutter fühlte sich in dieser Umgebung wohl.
Nach der Sozialwohnung in einem der übelsten Viertel von Manchester musste der kleine Bungalow nahe dem Meer die Erfüllung ihrer Träume darstellen. Manchmal meldete sich Alarics Gewissen, wenn er an das ärmliche Leben seiner Mutter zurückdachte. Während seiner Kindheit und seines Studiums war ihm stets bewusst gewesen, welche Opfer sie für ihn gebracht hatte. Nur ihr waren seine Leistungen zu verdanken, die ihm später ein Stipendium eingetragen hatten und schließlich die Verwirklichung seines größten Wunsches, Chirurg zu werden.
Sobald es ihm möglich gewesen war, hatte er ihr das Studiengeld zurückgezahlt und den Bungalow gekauft. Nun schickte er ihr monatlich eine gewisse Summe, damit sie nie wieder auf materielle Annehmlichkeiten verzichten musste. Niemals beanspruchte sie, wie so viele andere Eltern bei ihren Kindern, seine Zeit und Aufmerksamkeit.
Während der Fahrt zur Südküste überlegte er, ob sie irgendwann im Lauf der Jahre mehr vom Leben ersehnt hatte – einen Mann, weitere Kinder, mehr Komfort. Wenn ja, hatte sie es für sich behalten. Am Stadtrand hielt er impulsiv vor einem Blumenladen, parkte uncharakteristischerweise im Halteverbot. Eine Verkäuferin füllte gerade große Vasen mit taufrischen Blumen, als er eintrat, und lächelte ihn an. Wenig später trug er einen riesigen Strauß zum Auto, fühlte sich ungeschickt und ein bisschen albern. Das Mädchen seufzte und schaute ihm nach, mit romantisch verklärtem Blick. Würde ihr Liebhaber jemals auf den Gedanken kommen, ihr frühmorgens Blumen zu kaufen, frisch vom Markt?
Als Sage aufstand, hatte Faye das Haus bereits verlassen. Nach dem Verbleib ihrer Mutter befragt, schaute Camilla auf ihre Uhr und erklärte geistesabwesend: „Oh, an diesem Tag geht sie mit Gran immer ins Fraueninstitut.“
Sage runzelte die Stirn. Natürlich, sie war nicht auf dem Laufenden, was die Aktivitäten ihrer Mutter betraf. Und es verblüffte sie, dass die viel beschäftigte Liz jeden Monat einen ganzen Tag opferte und sich um das lokale Fraueninstitut kümmerte. Immerhin leitete sie einen großen Betrieb, und ihre Produkte waren in allen Teilen der Welt begehrt, wo die Leute das nötige Geld und die Lust hatten, Mode aus der berühmten Cottingdean-Wolle zu tragen. „Wann ist deine Mutter weggegangen?“
„Keine Ahnung. Frag Jenny, vielleicht weiß sie Bescheid.“
Die Stirn immer noch gerunzelt, beobachtete Sage, wie die Haushälterin
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