Schattenjahre (German Edition)
hierherzukommen, das las man in ihren Augen. Eine hübsche Frau. Wie sie das überhaupt ertragen konnte …
Die Schwester öffnete die Tür, und Faye zögerte, dann nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, überquerte die Schwelle und rief munter: „Hallo, Mutter, wie geht es dir heute?“
Sie hörte, wie die Tür hinter ihr geschlossen und versperrt wurde, versuchte das Geräusch aber zu verdrängen und sich auf die kleine, zerbrechliche Gestalt zu konzentrieren, die am Fenster saß. Die Patientin wandte den Kopf zu ihr, schaute sie an, ohne sie zu erkennen. Sie erkannteFaye nie. Deshalb war das alles ja auch so sinnlos. Die Frau, die sie Mutter nannte, die ihr das Leben geschenkt hatte, um derentwillen sie eine so große Seelenlast trug – Verantwortungsgefühl, Gewissensbisse und Hass –, diese Frau kannte sie nicht mehr.
Nun lächelte sie Faye an, scheu und zaudernd, die Augen wachsam und voller Angst. Sie zuckte im Sessel zurück, als die Besucherin zu ihr ging, und stieß leise Schreckenslaute hervor.
Sofort wusste Faye, von jener vertrauten Mischung aus Zorn und Kummer erfasst, verzweifelt über ihre Unfähigkeit, irgendetwas zu trösten, was vielleicht noch nicht gestorben war im Gehirn ihrer Mutter. Gleichzeitig grollte sie dieser Frau, der es im Gegensatz zu ihr selbst gelungen war, der gemeinsamen Vergangenheit zu entfliehen.
Nichts von diesen Gefühlen zeigte sich in Fayes Gesicht. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, sich nichts anmerken zu lassen. Die endlosen, grauenhaften, schmerzlichen Stunden beim Psychiater hatten ihr die Unmöglichkeit vor Augen geführt, dem jetzigen Zustand der Mutter das selbst erlebte Leid gegenüberzustellen.
Sich stark und frei von Schuld zu fühlen, David und Camilla zuliebe – das war ihr Ziel gewesen. Eine gewisse Kraft hatte sie errungen. Aber die Schuldgefühle abzuschütteln, die der Psychiater ungerechtfertigt fand – das war etwas anderes. Und in dieses Schuldbewusstsein wand sich wie eine lebende, atmende Schlange ihr Zorn – nein, ihr Hass. Und doch – was hatte die Mutter getan. War sie nicht ebenso ein Opfer wie die Tochter?
Wäre Faye an der Stelle ihrer Mutter gewesen – sie hätte mit allen Kräften gekämpft, um ihr Kind zu schützen. Sie war eben ganz anders. Nie hatte sie ein solches Leben ertragen müssen wie die Mutter. Sie durfte nicht unfair sein, keine Vergleiche ziehen. Was würde das auch nützen? Es gab kein Zurück, die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Faye hatte dies alles überlebt und David geheiratet, Camilla geboren, ein gewisses Maß an innerem Frieden erreicht. Und mit diesen Besuchen im Heim sorgte sie dafür, dass ihre geliebte Tochter niemals die Qualen kennenlernen würde, die sie selbst erlitten hatte. Wenn sie das erkaufte, indem sie jeden Monat der Frau gegenübertrat, die sie zur Welt gebracht und verraten hatte, dann nahm sie es willig auf sich.
Sie blieb vier Stunden, sprach sanft mit ihrer Mutter über dies und jenes. Die leisen Worte schienen die Kranke zu beschwichtigen. Scheu beobachtete sie ihr Gegenüber, aber in ihrem Gesicht zeigte sich kein Wiedererkennen.
Ehe Faye ging, fand das Ritual des Mittagessens statt. Sie schaute zu, wie ihre Mutter mit dem Brot spielte und es zu winzigen Stücken zerbröckelte. Körperlich war die Patientin fähig, für sich selbst zu sorgen, was viele andere nicht vermochten, und nicht in eine groteske Parodie ihrer Kindheit verfallen.
Die Geräusche und Gerüche, die aus anderen Zimmern drangen, wenn Faye an sekundenlang geöffneten Türen vorbeikam, erregten jedes Mal Übelkeit. Oft traf sie Besucher, die regelrecht aus diesem Haus flohen, erschüttert von den Dingen, die sie hier sahen und hörten, aber immerhin in der Gewissheit, dass ihre geisteskranken Mütter, Tanten oder Großmütter die bestmögliche Pflege erhielten.
In diesen verschlossenen Räumen vegetierten Frauen, die Leben geschenkt und unwissentlich infolge ihres Wahnsinns zerstört hatten. Bei einem Großteil lag die Ursache der Krankheit im Dunkeln – bei Fayes Mutter nicht. Die Tochter musste nicht befürchten, eines Tages selbst von diesem schrecklichen Leiden befallen zu werden. Im zerquälten, einst so vertrauten und jetzt beängstigend unkenntlichen Gesicht der armen Kreatur sah sie keinen bedrohlichen Schatten ihrer eigenen Züge.
Am Nachmittag verließ sie das Heim. Ein heftiges Pochen in ihrem Kopf kündigte eine Migräne an. Am ganzen Körper zitternd, suchte sie Zuflucht bei ihrem Auto. Sie
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