Schattenjahre (German Edition)
konnte das Wunder kaum fassen. Für kurze Zeit genoss sie ein ungetrübtes Glück – bis zu Davids Tod. Ein neuer Schicksalsschlag, eine neue Strafe.
Einen Monat später erhielt sie den Brief. Liz begegnete ihrer schockierten, fast hysterischen Schwiegertochter, die das Blatt Papier mit bebenden Fingern umklammerte, im Salon. Und da hatte Faye ihr alles erzählt, ohne sich selbst zu schonen …
In der Küche wärmte sie den Kräutertee auf. Nicht zum ersten Mal trank sie ihn allein. Sie fürchtete sich so – aber sie musste dorthin fahren, durfte ihrer Strafe nicht ausweichen. Camilla zuliebe musste sie es tun.
Alaric Ferguson blickte auf seine Uhr. Offiziell hatte er an diesem Tag frei und die Klinik bereits verlassen wollen, doch dann war ein Notfall eingeliefert worden. Er hätte die Operation seinem Medizinalassistenten überantworten können. Aber das von seinem presbyterianischen schottischen Großvater mütterlicherseits geerbte bedingungslose Pflichtgefühl und das Bestreben, die Arbeit stets vor das Vergnügen zu stellen, waren tief in ihm verwurzelt.
Jancis hatte ihm vorgeworfen, er genieße es, den Märtyrer zu spielen, und liebe die Anforderungen seines Berufs geradezu. Andere Ärzte würden sich nicht so aufführen, fänden mehr Zeit für ihre Ehefrauen, für die Familie, für die Freuden des Lebens und schafften es trotzdem, ihre Karrieren erfolgreicher voranzutreiben als er. „Schau dich doch an!“, hatte sie einmal gefaucht. „Wie viele Kollegen von deinem Kaliber hängen immer noch in einer runtergekommenen Klinik vom Nationalen Gesundheitsdienst herum, leben von einem Almosen und machen zahllose Überstunden? Und wozu das alles? Du warst der Beste in deinem Jahrgang. Und sieh mal, was du draus gemacht hast! Gar nichts!“
Hinter ihrem Zorn hatte er ihren Frust gespürt und deutlicher denn je erkannt, wie verbittert sie im Lauf der Jahre geworden war. Sie hatte selbst Medizin studiert und ihn kurz nach seiner Promotion kennengelernt. Ihr Interesse schmeichelte ihm, verwirrte ihn aber auch. Seine strenge Erziehung und die entbehrungsreiche Jugend hatten ihm wenig Zeit für Spaß und Spiel gelassen. Seine Mutter, jung verwitwet, hatte ihn eifrig in seinem Entschluss unterstützt, Arzt zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten beide Opfer bringen. Es war nicht leicht gewesen. Und nun flirtete diese hübsche, blauäugige Blondine mit ihm, öffnete eine Tür zu einer völlig neuen Welt.
Sechs Monate später heirateten sie, und er liebte sie abgöttisch, erlaubte ihr den Kurs des gemeinsamen Lebens zu bestimmen. Gutmütig lachte er über ihre Wünsche – er sollte ein weltberühmter Chirurg werden, sie würden in einem schönen Haus wohnen, seine Kollegen und prominenten Patienten einladen …
Damals hatte er geglaubt, sie würde einfach nur in fantasievollen Tagträumen versinken, und nicht einmal geahnt, dass sie tatsächlich eine solche Karriere von ihm erwartete. Und später, als er das verstand, war es zu spät. Selbst wenn er es wollte, er konnte sich nicht ändern. Der Lebensstil, der Jancis vorschwebte, unterschied sich grundlegend von seinen eigenen Vorstellungen. Eines Tages war er nach Hause gekommen und hatte sie mit einem Kollegen im Bett gefunden – mit einem jener cleveren, entschlossenen Ärzte, die eine lukrative Privatpraxis anpeilten und dummen, eitlen Frauen weismachten, sie könnten ihr Leben ebenso wundersam verwandeln wie mittels plastischer Chirurgie ihre Gesichter und Körper. Da hatte Alaric das endgültige Ende seiner Ehe registriert.
Er nahm Jancis nichts übel. Sie war von ihm genauso getäuscht worden wie er von ihr. Dass sie ihr Täuschungsmanöver beabsichtigt hatte und er seines nicht – darüber mochte er nicht nachdenken. Zum Glück war die Ehe kinderlos geblieben. Die Scheidung hatte seine Mutter tief erschüttert. Jetzt war er fast zweiundvierzig. Wann immer er sie sah, beschwor sie ihn, wieder zu heiraten. Lächelnd schwieg er. Wenn er sich manchmal einsam fühlte – nun, er wollte es so. Er war ein brillanter, engagierter Arzt, der – nach Ansicht vieler Kollegen – seine Talente außerhalb einer Privatpraxis vergeudete. Aber Alaric hielt es für seine Pflicht, den Schwachen zu helfen, seine Fähigkeiten in den Dienst einer Mehrheit, nicht einer Minderheit zu stellen. Deshalb machte er oft Überstunden. Manchmal vergingen Wochen und Monate, ohne dass ihm die Existenz einer größeren, freieren Welt außerhalb seiner eigenen bewusst wurde. Doch
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