Schattenjahre (German Edition)
gegen die Moralgesetze der guten Gesellschaft verstoßen hatte, und fühlte sich ihr näher denn je. Ihre Liebe zu David, dem wundervollen David, und seiner Mutter änderte sich keineswegs, nur weil Edward nicht sein Vater gewesen war.
Das Tagebuch drängte sie, ebenso wie Sage, noch mehr über das Schicksal der Verfasserin zu erfahren. Allerdings sah sie dies alles aus einem anderen Blickwinkel als ihre Schwägerin. Um drei Uhr nachts legte sie das Buch beiseite und öffnete die Nachttischschublade. Verlockend schimmerte das vertraute Glasröhrchen im Lampenlicht. Fayes Finger zuckten, krampfhaft ballte sie die Hand, zwang sich, nicht danach zu greifen. Die Schlaftabletten in dem Röhrchen würden ihr helfen, ihre dunklen Ängste zu vergessen. Nur eine davon konnte ihr traumlosen Schlummer schenken, nur eine einzige … Nein. Diesen Weg wollte sie von jetzt an nicht mehr gehen.
Nach Davids Tod hatte sie die erste dieser von Dr. Palmer verordneten Tabletten geschluckt. Später, als die Wirkung nachließ, erhöhte sie die Dosis auf zwei, schließlich auf drei, bis sie ihre Tage, von Drogen umnebelt, in vager Lethargie verbrachte.
Liz war es gewesen, die ihr das Medikament weggenommen und sie sanft und doch entschieden ermahnt hatte, sie dürfe nicht in Gleichgültigkeit versinken. Faye habe zwar ihren Mann verloren, aber seine Tochter lebe noch und brauche die Mutter.
Nacht für Nacht saß Liz neben ihr am Bett und hörte ihr zu. In jenen schwarzen Tagen nach Davids Tod hatte Faye gegen ihre Schwäche gekämpft wie nie zuvor – und mithilfe der Schwiegermutter gesiegt.
Aber nun war Liz nicht mehr an ihrer Seite, und plötzlich kehrten die düsteren Schatten, die panischen Ängste zurück, die sie niemals völlig bezwungen hatte, stahlen sich in ungeheurer, geballter Kraft heran und lachten über die Verletzlichkeit ihres Opfers.
Normalerweise saß Liz in solchen Nächten bei ihr. Worte waren überflüssig, sie erkannte instinktiv, was in der Schwiegertochter vorging. Doch jetzt gab es keine Liz – vielleicht nie wieder.
Fayes Herz schlug wie rasend, Furcht versteifte ihre Muskeln. Sie fühlte sich elend und schwindlig, versuchte tief Atem zu holen, sich zu erinnern, dass sie all diese Symptome selbst heraufbeschworen hatte. Andererseits brauchte sie ihre Schuldgefühle, den Glauben, mit dieser allmonatlichen Qual würde sie die rachsüchtigen Götter irgendwie besänftigen oder ihre Tochter schützen. Wenn sie bereitwillig die Bürde ihrer Angst und Gewissensbisse trug, würde es ihrer geliebten Camilla erspart bleiben, so etwas durchzumachen.
In der Küche stand eine Kanne mit Kräutertee. Den hatte sie zusammen mit Liz oft getrunken, in jenen schlaflosen Nächten voll beklemmender Gedanken an die Vergangenheit. Sie blickte wieder auf das Tablettenröhrchen, ballte die Hand noch fester, um es nicht aus dem Schubfach zu nehmen. Drei Uhr – nur noch ein paar Stunden. Am Morgen würde alles vorbei sein. Bis zum nächsten Monat.
Zitternd schlug sie die Decke zurück und griff nach dem hübschen Morgenmantel aus Baumwolle, der über dem Fußende des Betts lag. David hatte sie wegen dieser Manie gehänselt, ständig ihren Körper zu verhüllen, aber nie versucht, sie davon abzubringen. Nur wenn sie sich liebten, erlaubte sie ihrem Mann, ihr das Nachthemd auszuziehen. Und dann das rituelle Bad, anfangs heimlich, mit Schuldgefühlen, bis er ihr erklärte, er verstehe sie. Ein frisches Nachthemd, zurück ins Bett …
Einmal fragte sie ihn, ob es ihn störe. So sanft, zärtlich und verständnisvoll er auch sei, sie könne sich nicht hinlänglich von der Vergangenheit distanzieren, um mehr zu tun als ihre ehelichen Pflichten. „Ich liebe dich“, erwiderte er und fügte mit seinem wunderbaren Lächeln hinzu, indem er sich beinahe selbst verspottete: „Außerdem interessiere ich mich gar nicht so wahnsinnig für Sex, Faye. In einem anderen Zeitalter hätte ich wahrscheinlich froh und zufrieden im Zölibat gelebt. Nun, für das Priesteramt fehlt mir die Motivation. Jedenfalls sind wir beide ein Paar, und was in unserem Intimbereich geschieht, geht nur uns was an, sonst niemanden. Vielleicht, wenn wir keine Kinder wollten …“
Kinder. Die wünschten sie sich alle beide. Bei der ersten Schwangerschaft waren sie überglücklich – und zutiefst verzweifelt, als Faye das Baby verlor. David versuchte ihr auszureden, mit dieser Tragödie solle sie bestraft werden. Und dann erwartete sie wieder ein Kind, gebar Camilla,
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