Schattenjahre (German Edition)
etwas reservierte Hausfrau in mittleren Jahren sein können. Trotzdem strahlte sie in Fayes Augen etwas Verräterisches aus. Oder lag es nur an ihren Gewissensqualen, an den Ängsten, dass sie die eiserne Entschlossenheit dieser Frau spürte, niemandem Zugang zu gewähren, der hier nichtsverloren hatte? Das Wissen um diese ehernen Gesetze hätte sie trösten müssen, stattdessen scheute sie davor zurück wie ein Kind vor unerträglichen Tatsachen des Lebens.
Die Frau begrüßte sie, sprach sie mit ihrem Namen an und lächelte freundlich. „Heute haben wir einen unserer besseren Tage. Das schöne Wetter scheint sie alle aufzuheitern.“ Sie blickte über die Schulter der Besucherin. Offenbar hielt sie nach Liz Ausschau.
„Heute komme ich allein“, erklärte Faye hastig. „Meine Schwiegermutter hatte einen Unfall.“ Sie hörte professionelle Mitleidsbezeugungen und musste wohl darauf geantwortet haben, aber es fing bereits an – die Panik, die Übelkeit, vor allem die Wut. Die Kraft dieses Zorns drohte sie zu ersticken, unter seiner Last zitterten ihre Knie, und sie spürte, wie er sich in ihr ausbreitete, wie ein Schrei, der nach draußen drängte – jene Art von Schrei, den sie zu unterdrücken gelernt hatte.
„Soll Sie jemand hinaufbegleiten?“ Die Stimme der Frau klang betont neutral. Wer mochte schon wissen, wie oft sie diese Frage stellen musste, wie viele andere gepeinigte Seelen mit dem gleichen Widerstreben, mit den gleichen Schuldgefühlen hierherkamen wie Faye?
Sie lächelte viel zu fröhlich und schüttelte den Kopf. „Nein, danke, das ist nicht nötig.“
Immerhin war sie nicht gewalttätig, nicht gefährlich und würde ihr gewiss nichts antun. Im Gegensatz zu anderen Insassinnen. Manchmal vernahm sie Gekreisch und Schluchzen, einen Lärm, der sich wie ein Pfeil in ihr Herz bohrte.
Die armen Geschöpfe könnten nicht anders, hatte eine Pflegerin einmal erklärt. Sie wüssten nicht, was sie täten. Wenigstens diese Gottesgnade sei ihnen vergönnt … Die junge Irin ahnte nicht, dass für viele Besucher die Erkenntnis, die Patientinnen wären sich ihres Zustands nicht bewusst, nur einen geringen Trost in einem Meer voller Unglück und Verzweiflung bedeutete.
Man mochte es nennen und umschreiben, wie man wollte – Wahnsinn war schlicht und einfach Wahnsinn. Er attackierte und vernichtete, manchmal erst im hohen Alter, manchmal viel früher! Und niemand konnte ihn beobachten, ohne zu leiden, ohne sich zu fragen, warum gewisse Menschen so bestraft wurden, was sie verbrochen hatten, um diese teuflische Zerstörung jeglicher Menschenwürde zu verdienen.
Faye stieg die Treppenfluchten zum obersten Stockwerk hinauf, mied den Lift, zögerte die Begegnung so lange wie möglich hinaus. Vor der Tür stand eine Schwester, die sie warmherzig und wohlwollend anlächelte.
Diese Besucherin zählte zu den angenehmsten. Sie hatte die Kranke nicht einfach hierherverfrachtet, um sie dann zu ignorieren. Nein, sie kam regelmäßig und bestand darauf, die Patientin jedes Mal zu sehen, auch an schlechten Tagen. Auch die Insassin zählte zu den erfreulicheren Fällen. Niemals tobte sie, aber es tat einem oft in der Seele weh, wenn man sie in einer Ecke kauern sah, wo sie wie ein Baby vor sich hin brabbelte, und weinte, sobald man sie auf die Beine zog, um sie zu waschen.
Am Anfang ihrer Tätigkeit war es der Schwester schwergefallen, täglich mitzuerleben, was mit dem menschlichen Geist geschehen konnte. Alte Leute entwickelten oft ungeahnte Kräfte, oder sie führten sich auf wie hilflose Kleinkinder. Andere brüllten Obszönitäten, wenn man sich um sie kümmern wollte. Immer wieder wurden die Arme der Pflegerin zerkratzt. Aber sie stand das alles durch, und sie verdiente recht gut. Dies war kein staatliches, sondern ein privates, teures Heim. Jede Insassin bewohnte ein eigenes Zimmer mit Bad, das die meisten allerdings nie aus eigenem Antrieb benutzten.
Bei der Eröffnung des Heims waren alle Schlafräume mit Teppichböden ausgestattet gewesen, wie sie von einer Kollegin wusste. Doch die hatten sich als unpraktisch erwiesen. Jetzt gab es nur noch Fliesenböden, leicht zu reinigen, und in manchen Fällen sogar wegwerfbare Bettwäsche. Trotz allem durfte man den Patientinnen nichts übel nehmen. Nur selten merkten sie, was sie taten. Und wenn sie es merkten …
„Soll ich mit Ihnen hineingehen?“, fragte sie und zuckte die Achseln, als Faye das Angebot dankend ablehnte. Diese Besucherin hasste es,
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