Schattenjahre (German Edition)
kam erst an zweiter Stelle.
Im Schlaf runzelte Sage die Stirn, von wirren Träumen heimgesucht. Das Tagebuch lag geöffnet auf dem Teppich neben dem Bett. Es war hinabgefallen, als sie die Augen geschlossen hatte, zu erschöpft, um weiterzulesen. Gefesselt von ihrer Lektüre, war sie so lange wie nur möglich wach geblieben.
In ihrem Traum stand sie in der Halle von Haus Cottingdean. Aber es war nicht die Halle, die sie kannte – so gemütlich mit den blank polierten Paneelen, den massiven Antiquitäten aus Eichenholz, den kostbaren Perserteppichen … Diese Halle war leer, die Täfelung fleckig und feucht, in allen Ecken hingen Spinnweben – wie die Mutter es in ihrem Tagebuch beschrieben hatte.
Draußen heulte die Füchsin, und der klagende Laut drang in Sages Schlummer. Der uralte sehnsüchtige Ruf des Weibchens nach dem Männchen, nach Beistand und Zweisamkeit und Liebe.
Sage weinte im Schlaf und schrie auf. „Scott, nein – verlass mich nicht …“ Doch das einst vertraute Gesicht des Liebsten verblasste bereits und wurde plötzlich überlagert von den Zügen anderer Männer – von mehr Männern, als sie sich erinnern wollte, die sie in ihrem Bett, aber nie in ihrem Herzen aufgenommen hatte. Während dieser Affären war es ihr jeweils für kurze Zeit gelungen zu vergessen, wie schmählich sie zurückgewiesen worden war. Bereitwillig hatten diese Männer die sexuellen Freuden mit ihr geteilt, die ihr in Scotts Armen verwehrt geblieben waren. Wie leicht war es gewesen, sie alle zum Narren zu halten und glauben zu machen, sie würden ihr etwas bedeuten. Was für dumme, eitle Kerle …
Alle – nein, nicht alle … Einer hatte sie durchschaut und abgewiesen, die falsche Münze in ihrer Hand erkannt, gepackt und ihr ins Gesicht geworfen.
Sie sah ihn vor sich – hochgewachsen, so wütend, dass sie sekundenlang befürchtet hatte, er würde sie schlagen. Dass er es unterlassen hatte, war sein Verdienst, nicht ihres. Sie beobachtete, wie er gegen seinen Zorn kämpfte und siegte. Und während er davongegangen war, hatte sie den törichten Impuls verspürt, ihn zurückzurufen. Wozu? Um sich zu entschuldigen?
Ungeduldig bewegte sie sich im Schlaf, als versuchte sie, vor ihren Träumen zu fliehen, vor einer Erkenntnis. Dieses Wissen zerstörte die Barriere, die sie zwischen sich und anderen errichtet hatte, und seine Wurzel lag im Tagebuch ihrer Mutter, im neuen Licht, das es auf die Schreiberin warf – eine verletzliche, tapfere, liebenswerte Frau. Wie gern hätte Sage eine solche Freundin gewonnen …
Im schmalen Krankenhausbett erwachte Elizabeth Danvers für kurze Zeit aus dem tiefen Drogenschlaf. Die Krankenschwester, die im Zimmer Wache hielt, eilte sofort zu ihr. In diesem kritischen Stadium war es sehr wichtig, die Patientin stets ruhigzustellen. Besänftigend strich die Schwester über Elizabeths Hände, die sich rastlos bewegten, und überprüfte die Monitore der lebenserhaltenden technologischen Batterie ringsum.
Elizabeth öffnete die Augen und wusste instinktiv, dass sie sich an einem fremden Ort befand, dass sie etwas tun musste – etwas Wichtiges, das ihre Aufmerksamkeit erforderte … Doch da drang bereits die Injektionsnadel in ihren Arm, die Krankenschwester beobachtete wieder die zahlreichen Monitore. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass die Patientin wieder in schützendem Tiefschlaf versunken war, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück.
Faye fand keine Ruhe. Das geschah jeden Monat, in jeder ersten Montagnacht, manchmal auch in mehreren Nächten davor und danach.
Am Vortag hatte Sage ihr das erste von Liz’ Tagebüchern gegeben. Nachdem sie ins Bett gegangen war, hatte Faye darin zu lesen begonnen. Eine Zeit lang wurde sie abgelenkt. Die junge Liz, ihre Hoffnungen und Träume, ihr Glaube an die große Liebe – das alles rührte die Schwiegertochter. Die Entdeckung, dass Edward nicht Davids leiblicher Vater gewesen war, schockierte sie nicht im selben Maß, wie es bei Sage der Fall gewesen war.
Sie liebte Liz, der sie das Beste in ihrem Leben verdankte – den Ehemann und die Tochter, sogar noch mehr. Die Schwiegermutter erwiderte ihre Gefühle, schenkte ihr nicht nur Liebe. Sie lehrte sie auch, Distanz zur Vergangenheit zu gewinnen, sich nicht die Schuld an deren Schatten zu geben, sich nicht als Ursache des Leids, sondern als dessen Opfer zu betrachten, das die Ereignisse nicht hatte kontrollieren können.
Jetzt wusste Faye, dass auch Liz tiefe Verzweiflung kennengelernt und
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