Schattenjahre (German Edition)
behauptete, die Behörden würden sie von der Mutter wegholen und in einem Kinderheim einsperren, wenn sie den Mund aufmache. Sie wusste, dass das stimmte. In ihre Schulklasse gingen Mädchen, die bei Pflegeeltern lebten, die man von den leiblichen Eltern getrennt hatte.
Als sie noch älter wurde, erfuhr sie, der leibliche Vater sei an Krebs gestorben. Was der Stiefvater mit ihr machte, geschah also nur zu seinem eigenen Vergnügen, das wusste sie nun. Die Drohung lautete jetzt, man würde ihre Mutter ins Gefängnis stecken. Und mit der Entwicklung ihres weiblichen Körpers kam die Erkenntnis, dass sie tatsächlich schlecht war, weil sie zuließ, was er mit ihr trieb. Sie hörte die anderen Kinder in der Schule über Sex scherzen, über Mädchen reden, die „es“ taten, und empfand Ekel vor sich selbst. Aber sie konnte die Besuche des Stiefvaters in ihrem Zimmer, in ihrem Bett nicht verhindern.
Sie malte sich aus, die Mutter würde ihn bei ihr ertappen und hinauswerfen. Täglich betete Faye darum. Aber so viel Lärm er auch machte, die Mutter schlief tief und fest.
Und dann spitzten sich die Dinge zu. Am Morgen ihres vierzehnten Geburtstages litt sie anheftiger Übelkeit. Eine Woche lang übergab sie sich jeden Morgen, und sie sah, wie die Mutter sie nervös beobachtete, wenn sie schwach und elend aus dem Bad kam. Stumm flehte Faye sie an, etwas zu merken, etwas zu sagen. Doch die Mutter schwieg.
Aber andere merkten es. Faye wusste nicht, welche ihrer Lehrerinnen die Schwangerschaft vermutet hatte. Jedenfalls wurde sie zur Direktorin geschickt und sanft, aber unnachgiebig befragt. Welcher Junge habe sie in Schwierigkeiten gebracht? Dann folgte eine Lektion über Fayes Alter, über die Gesetze, über ihr verantwortungsloses Verhalten. Erst als die Direktorin drohte, die Eltern in die Schule zu bestellen, brach Faye zusammen und gestand die Wahrheit.
Glücklicherweise glaubte ihr die ältere Frau und ergriff sofort Maßnahmen, um sie zu schützen. Faye wurde nicht wie viele andere Mädchen in ähnlichen Situationen nach Hause geschickt, mit einem Brief an die Eltern, der die Schülerin der Lüge bezichtigte. Das Personal in der Klinik, wo man die Abtreibung vornahm, war nett und fürsorglich. Aber nichts konnte den Schock mildern, den sie erlitt, als sie so brutal aus der Welt ihrer Kindheit in die erwachsener Frauen gezerrt wurde.
Man gab sie in die Obhut von Pflegeeltern, und in deren Haus lebte sie keineswegs wie in einem Gefängnis, mochte der Stiefvater ihr das auch eingeredet haben. Sie bewohnte ein eigenes Zimmer, konnte die Tür verschließen, benutzte ihr eigenes Bad. Niemand kam zu ihr, der nicht eingeladen wurde. Und Mr Masters – Onkel Bob – unternahm nie den Versuch, sie anzurühren. Der Albtraum war vorbei, zumindest scheinbar.
Dann kam es zur Gerichtsverhandlung, und wie Faye zu ihrem Entsetzen erfuhr, hatte die Mutter stets Bescheid gewusst und nichts getan, um ihr zu helfen. Faye war zu jung gewesen, um es zu verstehen, und fühlte sich verraten. Erst später erkannte sie, dass manche Frauen unfähig waren, sich gegen Männer wie den Stiefvater zu behaupten. Aber im Gerichtssaal hatte sie nur Verzweiflung, Bitterkeit und Zorn gegen die Mutter empfunden.
11. KAPITEL
Als Faye nun in die Vergangenheit zurückblickte, wurde ihr bewusst, dass sie sich glücklich schätzen musste, wenigstens in gewisser Weise.
Die Pflegeeltern waren wunderbar gewesen. Sie schenkten ihr sehr viel Liebe, die sie aber nicht erwiderte. Die Handlungsweise der Mutter, die alles gewusst und ihr nicht geholfen hatte, bewirkte ein Trauma, und es zerstörte Fayes Fähigkeit, anderen Leuten positive Gefühle entgegenzubringen.
Sie bemerkte die Liebe und Fürsorge, die ihr zuteil wurde, doch eine unsichtbare Wand trennte sie von ihren Mitmenschen und hinderte sie daran, ihnen entgegenzukommen. Seltsamerweise grollte sie der Mutter viel mehr als dem Stiefvater.
Den Rest ihrer Teenagerjahre verbrachte sie in einem sonderbaren Schwebezustand, in grauer Leere. Sie besuchte eine andere Schule, wo niemand von ihrer Vergangenheit wusste, arbeitete fleißig und bekam so hervorragende Zeugnisse, dass sie auf die Universität gehen konnte.
In jener Zeit verhielt sie sich normal, aber in ihrem Innern sah es ganz anders aus. Die Pflegeeltern, zweifellos in bester Absicht, sprachen nie mit ihr über die Dinge, die ihr zugestoßen waren. Und so wuchs sie heran und empfand wachsenden Ekel und Angst, wenn ein Junge
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