Schattenjahre (German Edition)
trat auf den Zebrastreifen, ein Wagen hielt, damit sie die Straße überqueren konnte. Dankbar lächelte sie den Fahrer an, der die Stirn runzelte. Er erkannte sie – die Schwiegertochter der schwerverletzten Frau auf der Intensivstation. Aber diesmal sah sie anders aus als bei der letzten Begegnung. Da war sie schockiert und verängstigt gewesen wie so viele Verwandte seiner Patienten, hatte ihre Gefühle aber unter Kontrolle gebracht. Jetzt stand sie, wie er mit seinem geübten Auge sofort bemerkte, kurz vor einem Zusammenbruch. Hätte er nicht gebremst, wäre sie ihm vermutlich vor die Räder gelaufen. Auf der Straße herrschte zurzeit kein Verkehr, und so musste er nicht weiterfahren. Neugierig beobachtete er, wie Faye zum Meer ging.
Er runzelte die Stirn, als er sah, wie sie ihren Wagen aufsperrte. Im Interesse der Sicherheitdürfte sie nicht fahren, doch das versuchte sie zu seiner Erleichterung auch gar nicht. Kraftlos sank sie auf den Beifahrersitz. Alaric Ferguson schaute zu dem Haus, das sie verlassen hatte, las die Aufschrift der diskreten Plakette neben dem schmiedeeisernen Tor. Solche Institute gab es viele in Fellingham. Wie er sich entsann, war dieses hier das beste, und es hatte sogar einen ausgezeichneten Ruf. Es beherbergte Frauen, die an der Alzheimerschen Krankheit litten, im fortgeschrittenen Stadium. Jeder, der die Auswirkungen dieser Krankheit auf die Patienten und deren Angehörige kannte, zweifelte nicht an der Existenzberechtigung solcher Pflegeheime.
Bei der ersten Begegnung war Faye ihm schwach und hilfsbedürftig erschienen. Sicher besaß sie nicht die nötige innere Kraft, um dieses Haus zu besuchen. Eigentlich müsste sie eher zu den Leuten gehören, die ihre kranken Verwandten irgendwo unterbrachten – möglichst weit weg, um regelmäßige Besuche zu vermeiden.
Er beschloss, in ihrer Nähe zu parken und sie unauffällig zu beobachten. Sollte sie den Motor starten, wäre es seine Pflicht, sie zu warnen, denn in ihrem gegenwärtigen Zustand würde sie nicht nur ihre eigene, sondern auch die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer gefährden …
Faye bemerkte ihn nicht. Sie fühlte sich so erschöpft und ausgelaugt, dass sie nicht wagte, die Augen zu schließen – vor Angst, dann könnte das Leben einfach aus ihr herausfließen. So schwach war sie erst ein einziges Mal gewesen, nach ihrer Fehlgeburt. Plötzlich fröstelte sie. Eigentlich müsste sie auf den Fahrersitz hinüberrutschen und den Wagen starten. Doch dazu konnte sie sich nicht durchringen. Sie wollte einfach nur zusammengesunken dasitzen. Keuchend rang sie nach Atem, wie eine gehetzte Kreatur, an die sich ein Mörder heranschleicht.
Warum gelang es ihr nicht, die Vergangenheit abzuschütteln? Das alles war so lange her, gehörte zu einem anderen Leben. Trotzdem konnte sie es nicht vergessen. Bilder, gestochen scharf und klar, tanzten durch ihr Gehirn, Erinnerungen, viel deutlicher als jene an David, an die glücklichen Momente, die sie vergeblich heraufzubeschwören suchte.
In ihrer Kindheit, in ihrer Unschuld und Naivität hatte sie geglaubt, niemand anderer auf der Welt wäre schlecht genug, um zu erleiden, wozu sie gezwungen worden war. Es gab sonst keine bösen Mädchen, die so bestraft wurden wie sie von ihrem Stiefvater – keine anderen Sechsjährigen, die wach im Bett lagen und auf die gefürchteten Schritte lauschten. Und dann die Hand, die erst schmeichelte und dann forderte, die widerwärtige Nähe des fremden, erwachsenen Männerkörpers, die den Drang weckte, laut zu schreien. Beinahe war es eine Erleichterung, wenn es tatsächlich geschah, denn danach würde sie schlafen, ihrer Angst entrinnen.
Immer wieder erklärte er, diese Dinge müsse er tun, weil sie ein böses Mädchen sei. Das flüsterte er andauernd, während sich sein hartes Fleisch schmerzhaft in ihr bewegte und seine Hand ihren Mund verschloss, ihre Schreie erstickte.
Weil sie ein so böses Mädchen sei, habe sie den Tod ihres leiblichen Vaters verschuldet. Und er, der Stiefvater, habe die Mutter geheiratet, um den Willen Gottes zu erfüllen und die Tochter zu bestrafen. Was hier geschehe, dürfe sie niemandem erzählen, denn sonst würde der Allmächtige sich sehr über sie ärgern und ihr die Mutter wegnehmen.
Ihr Verstand sagte ihr später, dass er log – als sie alt genug war, um die Ereignisse zu verstehen. Jede Nacht betete sie, ihre Mutter möge merken, was vorging, und die Qual beenden. Faye schwieg weiterhin, denn der Stiefvater
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