Schattenjahre (German Edition)
eine gewissenhafte Studentin, und sie hoffte, nach dem Erhalt ihres akademischen Grades eine Stellung als Archivarin zu finden, vorzugsweise in einem Institut, wo sie möglichst wenig mit anderen Leuten zu tun haben würde.
Eines Morgens stand sie nach dem Tutorium auf, ordnete ihre Papiere und Bücher. Als sie sich zur Tür wandte, bat Jeremy Catesby: „Gehen Sie noch nicht, Faye. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.“
Sofort begann sie zu zittern, ein Instinkt warnte sie vor einer Gefahr. Sie wollte zur Tür laufen und sie aufstoßen, konnte sich aber nicht rühren. Jeremy war hinter dem Schreibtisch hervorgekommen und stand vor ihr, er war hochgewachsen und kräftig gebaut, mit großen, scharfen Zähnen, die ihm das unheimliche Aussehen eines Raubtiers verliehen, und er bewegte sich auch so schnell und geschmeidig. Lächelnd streckte er eine Hand nach ihr aus. „Setzen Sie sich.“
Wie gern hätte sie sich geweigert … Aber er versperrte ihr den Weg zur Tür. Wenn ich stehen bleibe, wird er mich womöglich anfassen, dachte sie und erschauerte. Beinahe gaben ihre Knie nach, während sie seiner Aufforderung folgte und auf den Stuhl sank, der am weitesten von den anderen entfernt war.
„Sie brauchen nicht so ängstlich dreinzuschauen“, begann er. „Irgendwie verwirren Sie mich, Faye. Sie sind eine meiner besten Schützlinge, gewissenhaft und fleißig. Wenn einer mich so anschaut wie jetzt Sie, dann erwartet er normalerweise eine Lektion über seine mangelnden Leistungen. Aber ein Tutor sollte sich nicht nur um die Arbeit eines Studenten kümmern, sondern auch um persönliche Dinge …“
Er wusste es. Aus irgendeinem Grund wusste er es. Schweiß brach ihr aus allen Poren, dumpfe Angst beschleunigte ihren Herzschlag – die Furcht, an der sie fast ihr Leben lang gelitten hatte, die Furcht, jemand könnte die Wahrheit über sie herausfinden und dies benutzen, so wie es ihr Stiefvater getan hatte.
„Sie sind ein hübsches, sogar ein schönes Mädchen, Faye, und doch … Wie soll ich es ausdrücken? Nun, Sie scheinen das Leben einer Nonne zu führen.“
Faye fühlte, wie ihr das Blut brennend in die Wangen stieg. Sie wollte gegen die Einmischung in ihre Privatsphäre protestieren, und sie hasste die Art, wie er sie ansah, das wehmütige, aber auch berechnende Lächeln, das seine Lippen umspielte. Dieses Lächeln deutete an, er könnte ihre nonnenhafte Lebensweise ändern und sie würde ihm dankbar für seine Hilfe sein.
„Als Tutor betrachte ich es als meine Pflicht, meinen Studenten und Studentinnen nicht nur akademische Dinge beizubringen. Die Zeit an der Universität soll sie auch auf das Leben vorbereiten. Und wenn Sie Schwierigkeiten haben, macht mir das Sorgen, und ich versuche, Ihnen zu helfen.“
Faye ertrug es nicht mehr, ihn anzuschauen. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt, Hass und Zorn erfüllten sie, aber sie war auch wie erstarrt vor Angst. Sie wollte ihn anfauchen wie eine wütende Katze, ihm ins Gesicht schreien, er irre sich gewaltig, sie sei nicht die naive Jungfrau, für die er sie halte, ihm erzählen, wie sie sich ihr sexuelles Wissen angeeignet hatte und wie sie deshalb über die Männer dachte. Andererseits wollte sie davonlaufen, weit weg, sich irgendwo verstecken, wo niemand in ihrer Vergangenheit herumwühlen konnte, in ihrem Schmerz.
„Manchmal geraten wir ohne eigenes Verschulden in problematische Situationen, werden dasOpfer einer vielleicht unbeabsichtigten, aber trotzdem grausamen Bemerkung. Und ein sehr junger Mensch, der erst lernt, sich in der Welt zurechtzufinden, ist besonders verletzlich. Das gilt vor allem für den sexuellen Bereich.“
Er sah sie an, das wusste sie, schaffte es aber nicht, seinen Blick zu erwidern, vor lauter Angst, in seinen Augen den gleichen Ausdruck zu entdecken, den sie bei ihrem Stiefvater verabscheut hatte. Aus Jeremys Stimme hörte sie bereits die Zielstrebigkeit eines sexuell erregten Mannes heraus, eine glühend heiße Botschaft. Und dieser Tonfall schien ihm selbst ungeheures Vergnügen zu bereiten.
„Natürlich finden Sie es peinlich, vielleicht sogar schockierend, über solche Dinge zu reden. Ich nehme an, Sie sprechen nicht einmal mit Ihren Freundinnen darüber. Sie fürchten, die könnten über Sie lachen, Ihre Unschuld verspotten. Und die Jungfräulichkeit, die Sie aufgrund Ihrer Erziehung womöglich bis zur Hochzeit bewahren wollen, wird zur Belastung. Wie kann ich Ihnen helfen? Sie sind ein intelligentes Mädchen. Wissen
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