Schattenkampf
zehn selbstklebende Briefmarken von der Rolle, die er gekauft hatte, und frankierte den Umschlag. Er würde ihn am nächsten Morgen in einem anderen Stadtteil einwerfen.
Zum Schluss legte er den Brief auf den Tisch und musterte ihn noch einmal kurz. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er nicht auf ihn zurückverfolgt werden könnte, ging er, unterwegs alle Lichter löschend, ins Schlafzimmer. Er legte sich in voller Kleidung aufs Bett, zog sich die Decke über die Schultern, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit rief Tara Evans Mutter Eileen an und ließ sich seine Adresse von ihr geben. Anschließend dachte sie lange nach und versuchte, sich über ihre Motive klarzuwerden. Kurz nach dreiundzwanzig Uhr verließ sie schließlich die Wohnung und fuhr los. Nachdem sie vor seiner Wohnung am Straßenrand geparkt hatte, blieb sie, die Hände wie zum Gebet vor dem Mund gefaltet, bei offenen Fenstern noch einmal fünf Minuten im Auto sitzen.
Als sie schließlich vor seiner Tür stand, schlug ihr Herz so heftig, dass sie selbst ihr zaghaftes Klopfen kaum hörte. Nach einer Minute klopfte sie noch einmal, fester. Und wartete.
In der Wohnung ging ein Licht an, und als sie Schritte hörte, holte sie tief Luft.
Die Tür ging auf. Er hatte in voller Kleidung geschlafen. Sein Haar war zerzaust, und in seinen Augen war immer noch dieser verschlafene Blick, an den sie sich so gut erinnerte. Sie schaute zu ihm hoch, merkte, dass sie es mochte, hochschauen zu müssen, und wie sehr es ihr gefehlt hatte. Sie mochte es, dass er so groß war; das war einfach ganz anders, als Ron Nolan auf gleicher Höhe anzusehen. Alles mit Evan war so anders und so viel besser. Wie hatte sie das vergessen können?
Es gelang ihr nicht, ihrem Gesicht ein Lächeln abzuringen. Sie hatte zu viel Angst, das Herz schlug ihr bis zum Hals, die Hände an ihren Seiten zitterten.
Er sah sie nur an.
»Komme ich zu spät?«, fragte sie. »Heute Abend, meine ich.«
»Nein.«
»Ich hatte das dringende Bedürfnis, noch etwas mehr mit dir zu reden. Wäre das okay?«
»Klar, alles ist okay, Tara. Du kannst tun, was du willst. Möchtest du reinkommen?« Er trat zurück und ließ sie in die Wohnung, dann schloss er behutsam die Tür hinter ihr. Sie ging durchs Wohnzimmer, blieb an der Theke, die die Kochzeile abtrennte, stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Schultern hoben und senkten sich.
Von der Tür her sagte er: »Ich kann aber nicht dafür garantieren, dass ich allzu gut reden kann. Ich habe etwas Probleme mit dem Einschlafen, deshalb bin ich etwas zugedröhnt. Und ein paar Drinks hatte ich auch. Ich trinke zu viel. Damit muss ich unbedingt aufhören.«
»Sind die Schmerzen so schlimm?«
Er schaffte ein leichtes Schulterzucken. »Manchmal schon, aber das ist nicht wirklich das Problem.« Er ließ sich Zeit, bevor er fortfuhr. »Ich weiß, dass ich, egal, was die Ärzte behaupten, noch keineswegs wieder der Alte bin. Vielleicht werde ich das auch nie mehr sein. Ehrlich gestanden, setzt mir das manchmal gewaltig zu. Vor allem, wenn ich allein bin. Aber ich möchte auch niemandem das Gefühl vermitteln, die ganze Zeit bei mir sein zu müssen.«
»Deiner Mutter?«
»Zum Beispiel, ja. Aber auch sonst niemandem. Es ist …« Er zuckte wieder mit den Schultern. »Na ja, das ist jedenfalls, was ich zur Zeit tue, Tara. Versuchen, wieder auf die Beine zu kommen. Wieder ganz gesund werden, hoffentlich jedenfalls. Über das, was passiert ist, hinwegkommen.«
Evan stand immer noch an der Tür und machte keine Anstalten, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Sie spürte, wie diese Distanz ihr zusetzte, einen ganz speziellen Schmerz in ihr auslöste. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen.
»Aber ich rede schon wieder die ganze Zeit von mir«, sagte Evan. »Worüber wolltest du reden?«
»Über Ron. Ich habe nie … ich wollte dir sagen, dass es nie so war wie mit uns. Es war einfach was völlig anderes.«
»War? Vergangenheit?«
Sie atmete tief aus. »Ja. Nach allem, was du mir heute erzählt hast.«
»Okay. Und inwiefern war es mit uns so anders?«
Tara legte an der Taille ihre Hände zusammen. Diese Frage verdiente sie. Und er verdiente die Antwort darauf. »Weil wir diese große Nähe hatten, Evan. Auf einer sehr tiefen Ebene.«
Er nickte. »Ich weiß.«
»Ich glaube nicht, dass das jemals weg sein wird.«
»Nein. Ich auch nicht.«
Sie sah ihm in die Augen. »Warum bleibst du die
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