Schattenkinder - im Zentrum der Macht
–« Trey wollte es lieber nicht auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen. Er wusste, dass er nichts unternehmen durfte, was seinen Namen oder sein Gesicht in den Mittelpunkt rückte. Er durfte überhaupt keine Aufmerksamkeit erregen. Aber er konnte doch nicht einfach gehen und seinen Ausweis zurücklassen! Der Ausweis war das Einzige, was seine Mutter ihm mitgegeben hatte. Welche Chancen hatte er ohne ihn?
Der Mann hörte ihn gar nicht.
»Der Nächste«, rief er, während sein Kollege Treys Ausweis auf einen Stapel in einer Kiste unter dem Tisch warf.
Trey stand da und versuchte sich zu entscheiden, ob er noch etwas sagen sollte oder nicht.
»Gehst du jetzt rein oder machst du mir Platz?«, knurrte jemand hinter ihm. »Ich hab nämlich Hunger und seit drei Tagen nix gegessen. Hoffentlich gibt’s gleich was zwischen die Kiemen.«
Trey schluckte.
»Ich gehe rein«, sagte er. Er ließ seinen Ausweis zurück, ging am Tisch vorbei und trat durch das Eingangstor des einstigen Anwesens der Grants.
Mitten im Schwall der anderen neuen Polizeirekruten wurde Trey die Auffahrt entlanggespült und die Treppe hinauf durch die große Eingangstür. Erst nachdem er bereits daran vorbei war, fiel Trey ein, nach der Stelle Ausschau zu halten, an der der große Kronleuchter heruntergekracht war und Mr und Mrs Grant getötet sowie Lees Leben bedroht hatte, ehe Trey ihn rettete.
Ich habe hier schon einmal Mut bewiesen
, dachte Trey.
Also kann ich es auch wieder tun.
Er ging weiter.
Als die Flut der Leiber um ihn herum sich schließlich zu teilen begann, fand sich Trey in einer großen Halle, die er kaum wiedererkannte. In der Nacht der verhängnisvollen Party war er mit Sicherheit schon einmal hier gewesen, doch inzwischen wirkte der Raum völlig verändert. Trey erinnerte sich an Samt und Seide und funkelnde Gläser, während die Halle jetzt mit Regalen voll gepfropft war, aus denen graue Uniformen quollen.
»Größe?«, wollte ein Mann von Trey wissen.
»Äh, weiß ich nicht. Ich glaube, ich bin gewachsen, seit ich das letzte Mal . . .«
»Macht nichts«, sagte der Mann und drückte Trey eine Uniform in die Arme.
Der Stoff fühlte sich rau an. Von einem Uniformärmel starrte Trey das Abzeichen der Bevölkerungspolizei entgegen: zwei sich überschneidende Kreise mit einem tränenförmigen Symbol darunter. Trey hatte alle möglichen Gerüchte über die Bedeutung des Abzeichens gehört. Einige meinten, die Kreise stünden für zwei Kinder und das Symbol für die Trä nen der Mütter, die ihre dritten Kinder töten mussten. Andere sagten, die Träne sei eigentlich eine Schaufel und symbolisiere das Begraben der Kinder, die von der Bevölkerungs polizei getötet wurden. So oder so verkrampfte sich Treys Magen beim Anblick des verhassten Abzeichens. Er ließ die Uniform zu Boden fallen, beugte sich vor und würgte.
Plötzlich schlug ihm jemand mit der Faust gegen den Kopf.
»Junge!«, brüllte ein Mann. »Behandle die Uniform gefälligst mit Respekt! Heb sie sofort auf! Hörst du?«
»Ja, Sir!«, presste Trey mühsam heraus. Ungeschickt sammelte er Hemd und Hose auf. Der Mann brüllte weiter – irgendetwas von »Stolz auf die Organisation, der du gerade beigetreten bist« und »die edle Sache«. Rund um sich herum spürte Trey die Blicke der anderen Rekruten, die stumm und erschrocken zusahen. Einige hatten mitten im Umziehen innegehalten und standen nun halb nackt da, mit nur einem Arm oder Bein in der neuen Uniform.
Niemand stand Trey bei.
»Was hast du dazu zu sagen?«, endete der Mann.
»Bitte – ich will nur – gibt es irgendwo eine Toilette?«, stammelte Trey.
Wieder schlug ihn der Mann, dass Trey gegen die Wand flog. Trey schmeckte Blut. Vorsichtig betastete er sein Gesicht, kam aber zu dem Schluss, dass er sich die Wunde wohl selbst zugefügt haben musste, indem er sich auf die Zunge gebissen hatte.
»Und jetzt macht, dass ihr fertig werdet, und meldet euch augenblicklich nebenan!«, brüllte der Mann – dieses Mal nicht nur an Trey, sondern an alle Rekruten gewandt.
»Jawohl, Sir«, riefen einige von ihnen und wieder wurde es hektisch im Raum, als alle so schnell wie möglich in die Uniform schlüpften.
Jemand tippte Trey auf die Schulter.
»Die Toilette ist dort drüben«, informierte ihn ein Junge, der bereits fertig angezogen war.
»Vie– vielen Dank«, sagte Trey.
Ohne jeden weiteren Gedanken an Demütigung oder Schmerz oder gar die Notwendigkeit, Mark und Lee zu retten, stolperte er über
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