Schattenkinder
Freunde - du warst doch sauer auf sie, weil sie nicht mitgezogen haben - was ist, wenn sie nicht auftauchen?«
»Was meinst du damit?«, fragte Jen scharf.
Luke konnte vor lauter Panik kaum sprechen. »Im Chatroom haben sie sich lustig gemacht. Carlos und Scan und die anderen. Du hast gesagt, sie nehmen es nicht ernst.«
»Ach das. Das war - das ist lange her. Jetzt sind sie alle dabei. Sie sind Feuer und Flamme. Carlos ist mein Stellvertreter bei der ganzen Sache. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr er mir geholfen hat. Also abgemacht, zehn Uhr, dann sind es acht Stunden Fahrt zur Hauptstadt und...« Sie sah wieder auf ihre Papiere. »Was für ein Transparent möchtest du tragen? >Ihr schuldet mir ein Leben< oder >Schluss mit dem Bevölkerungsgesetz! Sofort!< oder - das habe ich in einem alten Buch gefunden - > Gebt mir Freiheit oder gebt mir den Tod«
Luke versuchte sich vorzustellen, was Jen anscheinend für selbstverständlich hielt. Er sollte in ein Auto steigen. Er hatte in der Scheune schon einmal im Pritschenwagen gesessen - ein Auto war fast das Gleiche.
Und dann musste er acht Stunden lang nichts anderes tun als das still sitzen. Auch nicht sehr schwierig. Nur dass ihm die Angst vor dem Ziel ihrer Reise die ganzen acht Stunden über im Nacken sitzen würde. Und dann in aller Öffentlichkeit aussteigen, vor dem Haus des Präsidenten? Und ein Schild tragen? Seine Vorstellungskraft versagte. Der kalte Schweiß brach ihm aus.
»Jen, ich...«, setzte er an.
»Ja?«
Jen wartete. Das Schweigen zwischen ihnen schien anzuschwellen wie ein Ballon. Luke rang nach Worten.
»Ich kann nicht mitkommen.«
Mit offenem Mund starrte Jen ihn an.
»Ich kann nicht«, sagte er noch einmal kläglich.
Jen schüttelte heftig den Kopf. »Doch, du kannst«, sagte sie. »Ich weiß, dass du Angst hast - das haben wir alle. Aber das hier ist wichtig. Willst du dich dein ganzes Leben lang verstecken oder willst du die Geschichte verändern?«
Luke versuchte es mit einem Witz.
»Gibt's nicht noch eine andere Möglichkeit?«
Jen lachte nicht. Sie sprang vom Sofa auf.
»Andere Möglichkeit, andere Möglichkeit.« Sie lief hin und her, dann drehte sie sich abrupt zu ihm um. »Klar.
Du kannst ein Feigling sein und darauf hoffen, dass jemand anderes die Welt für dich verändert. Du kannst dich da oben auf deinem Dachboden verstecken, bis jemand an die Tür klopft und sagt: >He, sie haben übrigens die Versteckten befreit. Willst du auch rauskommen ?< Ist es das, was du willst?«
Luke antwortete nicht.
»Du musst mitkommen, Luke, sonst wirst du dich für den Rest deines Lebens verabscheuen. Wenn du dich irgendwann nicht mehr verstecken musst, wird ein Teil von dir noch Jahre später denken: Ich habe es nicht wirklich verdient, weil ich nicht dafür gekämpft habe. Ich bin es nicht wert. Aber das bist du, Luke. Du bist es.
– 56 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Du bist klug, lustig und nett, du solltest ein richtiges Leben leben statt in diesem alten Haus da drüben lebendig begraben zu sein...«
»Vielleicht macht mir das Verstecken einfach nicht so viel aus wie dir«, flüsterte Luke.
Jen sah ihn eindringlich und unbeirrbar an.
»Doch, das tut es. Du hasst Mauern genauso sehr wie ich. Vielleicht sogar noch mehr. Du solltest dich mal hören. Jedes Mal, wenn du erzählst, wie du früher hinausgegangen bist und im Garten gearbeitet hast oder sonst was, fängst du an zu leuchten. Du lebst. Und selbst wenn du dir sonst nichts wünschst, willst du nicht wenigstens wieder draußen sein können?«
Was Luke sich am meisten wünschte, war Jen zu entkommen. Weil sie Recht hatte. Alles, was sie sagte, war richtig. Aber das konnte nicht bedeuten, dass er mitkommen musste. Er drückte sich noch tiefer in die Couch.
»Ich bin nicht so mutig wie du«, sagte er.
Jen packte ihn an den Schultern und sah ihm in die Augen.
»Ach, wirklich?«, sagte sie. »Du hast dich getraut hierher zu kommen, nicht wahr? Und da ist noch was - hast du je darüber nachgedacht, warum es immer nur du bist, der zu mir kommt, aber nie umgekehrt? Wenn ich wirklich so viel tapferer bin als du, warum setze ich dann mein Leben nicht aufs Spiel, um dich zu besuchen?«
Dafür gab es tausend Antworten. Weil ich dich zuerst gefunden habe. Weil dein Haus sicherer ist als meines.
Weil ich dich mehr brauche als du mich. Du hast deinen Computer und deine Chatroom-Freunde. Und du kommst aus dem Haus. Luke wandte sich ab.
»Mein Vater treibt
Weitere Kostenlose Bücher