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Schattenkrieg

Schattenkrieg

Titel: Schattenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Saumweber
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von seinem Gesicht so viel übrig gelassen, dass Derrien seinen alten Freund und Lehrmeister gerade noch erkennen konnte. Sein Bauch war aufgeschlitzt, sein Gedärm hatten die Vögel über die Wurzelschlingen und den Schnee des Dorfplatzes verteilt.
    Derrien schloss die Augen, ballte seine Hände zu Fäusten, als seine Ahnen noch einmal versuchten, ihn in die Raserei abzudrängen. Doch es gelang ihm, auch diesen Angriff abzuwehren.
    »Gebt mir eine Axt!«, murmelte er und glitt aus dem Sattel.
    »Herr«, hörte er Drummonds Stimme, »wir haben das Dorf durchsucht, es steht tatsächlich leer und –«
    »EINE AXT!«
    Jemand reichte ihm ein schweres Beil. Derrien ging auf den Baum zu, um seinen toten Freund ein erstes, aber –
bei allen Göttern!
– nicht das letzte Mal zu rächen. Rushai würde dafür bluten. Dafür und für die vielen anderen Verbrechen, die er begangen hatte. Pilix, Quintus, die siebzig Waldläufer, die die beiden angeführt hatten … Wie lange konnte man einen Schatten foltern, ohne ihn zu töten? Doch wie würde Derrien die Verluste ausgleichen, die er erlitten hatte?
Mein Bruder muss mir helfen, und Magnus –
    Mit einem sirrenden Ton schossen plötzlich die Wurzeln des Baums auf ihn zu. Derrien ließ die Axt fallen und riss die Arme nach oben, doch seine Reaktion kam zu spät. Er keuchte auf, als die Wurzeln begannen, ihn zu strangulieren.
    Sie können dich nicht töten!
dachte er verzweifelt, doch es half nicht, die aufkommende Panik niederzukämpfen. Aus dem Augenwinkel sah er Männer zu Hilfe eilen, sah, wie sie ebenfalls von den Wurzeln angegriffen wurden. Der Schmerz trieb Tränen in seine Augen und ließ Quintus’ Körper vor ihm verschwimmen. Immer enger schnürten sich die Wurzeln um ihn und ließen schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen. Sein Atem kam nur noch stoßweise und zischend, bald würde die Luft nicht mehr ausreichen, ihn bei Bewusstsein zu halten. Von irgendwoher hörte er zwei tiefe Hornstöße. Der Boden begann zu zittern, dumpfes Hufgetrappel wurde laut. Als Derrien kraftlos zu Boden stürzte, sah er – in langsamen, zähen Bewegungen, ganz so, als ob jemand die Zeit verlangsamt hätte – Waldläufer mit gezückten Schwertern und Äxten auf den Baum zustürmen, sah Drummond in seinenTodeszuckungen, Wurzeln um seinen Hals, die Zunge aus dem Mund hängend, das Gesicht blau verfärbt. Er sah über die Gebäude hinweg nach Süden, wo er Deweydrydd und seine Männer postiert hatte. Der ganze Waldrand schien in Bewegung geraten zu sein, Einzelheiten verschwammen hinter Schmerzenstränen. Waldläufer hetzten in panischer Angst, beritten oder zu Fuß, über die Weiden. Hinter ihnen tauchte am Waldrand eine breite Formation Reiter auf, mit metallenen Rüstungen und Lanzen, deren Spitzen im Sonnenlicht blinkten. Ein grünes Banner mit einem schwarzen Baum flatterte dazwischen.
    Dann war die Zeit plötzlich wieder da. Die Männer gaben ihren Pferden die Sporen, und während sie über die Weide donnerten, senkten sich ihre Lanzen in einem tödlichen Bogen nach unten.
    Erst in diesem Moment begriff Derrien, dass ihn die verdorbene Eiche gar nicht zu töten brauchte.
    Sie musste ihn nur aufhalten!
    Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

BATURIX
     
    Castellum Ordalum, helvetisches Siedlungsgebiet, Norwegen
    Sonntag, 22. November 1998
    Die Innenwelt
     
     
    Es war eine kalte dunkle Neumondnacht, wolkenverhangen und sternenlos. Ein eisiger Ostwind strich durch die Finsternis und trug das einsame Geheul eines Wolfes mit sich. Es war die kälteste Zeit des Tages, die Stunden zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang, wo man nicht einmal einen Hund nach draußen jagen wollte und sich am liebsten im warmen Stroh eines gemeinschaftlichen Lagers unter einer dicken Schicht Decken verkroch.
    Gemeinsam mit seinem dreizehnjährigen Sohn Gaius hielt Baturix Wache auf dem ausgesetzten Dach des Kastellturms Ordalum. Erst ungefähr eine Stunde war vergangen, doch im schneidenden Wind dehnte sich die Zeit in alle Ewigkeiten. Fröstelnd zog sich Baturix zum hundertsten Mal die Mütze auf dem Kopf zurecht und rieb sich die Hände, um das Blut in Bewegung zu halten. Er sehnte sich nach der Wärme des Wachraumes, doch die musste noch eine halbe Stunde warten.
    Gaius stand auf der anderen Seite des Turms und starrte stumm in die Finsternis. Er hatte sich bisher noch kein einziges Mal beklagt, weder über Kälte noch über Finsternis oder Müdigkeit. Der Junge war so konzentriert bei der Sache, dass

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