Schattenkrieg
dort.« Damit zeigte Murdoch in das Seitental, durch das sie gekommen waren. »Dann weißt du, dass die Luft rein ist. Vielleicht schaffen wir es dann noch bis Sonnenuntergang.«
Es war eine gute Idee. Das Seitental zum Fjord hin war von Süden her nicht einsehbar und ein Brandpfeil im späten Abendhimmel ein deutliches Zeichen. Derrien nickte ihm zu, und Murdoch machte sich auf den Weg.
Der Wolf stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Zwei Stunden vergingen, in denen Derrien mit grimmiger Miene im Gestrüpp lag und sich ausmalte, wie Rushai eine Fährladung Fomorer nach der anderen in Sicherheit brachte und sich dabei ins Fäustchen lachte. Tausendmal verfluchte er Murdoch dafür, sich so viel Zeit zu nehmen, wo es auf jede Minute ankam.
Erst als der Abend bereits wieder dämmerte, flammte plötzlich ein brennender Pfeil auf einer Klippe auf und verschwand zweihundert Meter tiefer im Wald. Derrien verlor keine Zeit. Eilig stürmte er zurück zu den wartenden Waldläufern.
»Alles aufsitzen!«, rief er aufgeregt. »Deweydrydd! Nimm die Hälfte der Männer und warte hier. Schicke ein paar Kundschafter nach Süden, ich will wissen, wie es morgen weitergeht!«
»Jawohl, Herr.«
Während der Druide durch den Schnee zu seinen Walisern stapfte, schwang sich Derrien auf sein Pferd. »Der Rest folgt mir!«, befahl er und ritt los, zwischen Berg und See entlang in Richtung des Dorfs.
Als sein Trupp den Waldrand verließ, hielt er den Atem an. Wenn Rushai noch einen
vierten
Späher postiert hatte, würde gleich ein Horn ertönen, und all das Warten und Taktieren war umsonst. Doch es blieb ruhig. Sie hatten es geschafft, einen Schritt weiter zu denken als der Schattenlord. Mit einem Seufzer ließ Derrien den Atem entweichen, von dem er noch nicht einmal bemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte.
Drummond, der Anführer der wenigen Bretonen unter den Waldläufern, ritt mit seinen Männern voran, um die Häuser nach eventuellen Gefahren zu durchstöbern. Ein einziger schwarzer Pfeil aus dem Hinterhalt konnte ausreichen, einen Druiden zu töten. Es war ihre Aufgabe, das zu verhindern. Derrien folgte ihnen mit etwas Abstand.
Auch aus der Nähe schien das Dorf verlassen zu sein. Außer dem Hufgetrappel der Pferde war kein Geräusch zu hören. Türen und Läden lagen achtlos auf der Straße, ihre metallenen Scharniere fehlten. Ein Blick durch die leeren Fensterhöhlen zeigte, dass das Innere der Gebäude mit der gleichen Sorgfalt leergeräumt war.
Plötzlich hörte er ein fernes, vielfaches Flattern. Erschrocken hob Derrien den Kopf, sah über den Dächern einen ganzen Schwarm schwarzer Vögel, der nun mit lautem Krächzen um die tote Eiche herumflatterte. Nacheinander beruhigten sie sich undließen sich erneut auf dem Baum nieder. Erneut kehrte Stille ein. Eine einzelne Tür schwang quietschend auf einem vergessenen Scharnier.
Ein einzelner Hufschlag war zu hören. Derriens Hand legte sich um das Heft seines Schwertes. Doch als Konowion, einer der vorausgerittenen Bretonen, um eine Häuserecke ritt, entspannte er sich wieder. »Herr«, rief ihm der Waldläufer entgegen. Unter dem Schmutz in seinem Gesicht wirkte der Mann blass. Er zügelte sein Pferd neben Derrien. »Herr, es ist Quintus.«
Derrien knirschte mit den Zähnen und schloss die Augen. Er hatte es gewusst … Ahnenstimmen begannen in seinem Hinterkopf zu flüstern. Sie sprachen von einem Ausweg, einem leichten, schnellen Ausweg … sie versprachen Blut und forderten ihn auf, es sich zu holen … Die Verantwortung … die vielen Sorgen … alles würde sich in einem heißen, roten Nebel auflösen … Derrien spürte, wie seine Gedanken dahinschmolzen, während seine Waffenhand erneut nach seinem Schwert griff. Er erinnerte sich an die letzten Male, als die Stimmen die Oberhand gewonnen hatten, an Trollstigen, an die Schlacht am Jostedalsbreen, an den Schattenwald, an die vielen kleineren Scharmützel … erinnerte sich, wie einfach doch plötzlich alles wurde, sobald sich der rote Nebel über das Bewusstsein gesenkt hatte …
»GENUG!!!!«, schrie er auf. Dann sackte er auf seinem Sattel zusammen, schwer atmend. »Genug.« Seine Ahnen würden ihren Willen nicht bekommen. Nicht heute.
Langsam setzte er sein Pferd in Bewegung auf die Dorfmitte zu.
Die schwarze Eiche dominierte, auf einem enormen Ballen aus Wurzelgeflecht stehend, das Zentrum des kleinen Platzes. Quintus saß auf diesem Wurzelberg, mit Stricken an den Stamm gefesselt. Die Krähen hatten
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