Schattenkrieg
verkohlten Überreste, sah sich im Inneren des Gebäudes um. Der Strahl der Taschenlampe wanderte über ausgebrannte, schwarz grinsende Totenschädel, die Überreste des Gestühls, Dachbalken, die heruntergestürzt waren, und immer neue Toten, die in unmenschlichen, verkrümmten Positionen gestorben waren. Eine Frau hielt noch im Tode ein kleines Bündel im Arm, das Veronika erst auf den zweiten Blick als Säugling oder Kleinkind erkannte. Sie fand weitere verbrannte Kinder, die Körper so zusammengeschrumpft, dass sie sie anfangs niemals für etwas Menschliches gehalten hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie mit ihrer ersten Einschätzung falsch gelegen hatte – es mussten
Hunderte
von Leichen sein, nicht Dutzende. Als sie wiederin den Vorraum trat und Tönnes die Taschenlampe zurückgab, murmelte sie: »Hoffentlich hat Stern einen Haufen von diesen Bastarden erwischt …«
Bevor sie die Moschee verließ, versuchte sie, Haltung anzunehmen. Sie hatte merkwürdigerweise nicht geweint – statt übermäßig schockiert oder bestürzt zu sein, fühlte sie sich jetzt nur noch ausgebrannt und leer. Die Alpträume würden kommen, sie machte sich keine falschen Hoffnungen. Doch im Moment verspürte sie nur eine große Resignation.
Veronika musste blinzeln, als sie wieder in die Helligkeit des Tageslichts trat. Ulrich stand am Eingang, in seinem Gesicht nun nicht mehr die Vorfreude von vorhin, eher etwas wie Anspannung. Er legte die Hand um ihre Schulter, murmelte etwas, was sie nicht verstand, umarmte sie schließlich sogar. Veronika, völlig überrascht von der Geste, ließ ihn gewähren. Die anderen Soldaten beäugten sie wortlos. Vermutlich wollten sie wissen, wie ihre Zugführerin mit dem Schock zurechtkam. Nun war kein Moment, um Schwäche zu zeigen – Veronika hasste sich für den Gedanken und befahl dennoch: »Wir suchen weiter!«
Die Männer nickten wortlos und standen auf. Nur Ulrich rührte sich nicht. Plötzlich fiel ihr wieder sein Verhalten auf: zuerst die Vorfreude, dann die Umarmung …
Im nächsten Moment schoss eine Welle von Adrenalin durch ihren Körper, sie sog rasch die Luft ein, riss die Augen auf, als die Vorahnung ihres eigenen Todes über sie hereinschlug. »RUNTER!«, schrie sie und warf sich auf den Boden, als sie plötzlich ein heftiger Schlag gegen die Brust traf, der ihr die Luft aus den Lungen presste, beinahe im selben Moment krachte ein Mündungsknall. Zwei weitere Schüsse peitschten durch die Luft, dann eine vollautomatische Salve, während sich Veronika um Luft ringend und auf dem Rücken liegend hinter den Eingang der Kirche schob. Projektile schlugen um sie herum in die Pflastersteine. Ein siedendheißer Schmerz fuhr plötzlich in ihren rechten Oberschenkel, hinter ihr fing ein Mann an zu schreien.
»Dort oben! DAS FENSTER!«, schrie jemand, und ein anderer: »SCHARFSCH ÜTZE!«
Veronika hatte die Deckung erreicht. Der Schmerz überwältigte sie – nicht in der Brust, sondern im Oberschenkel. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu schreien, während sie beide Hände fest gegen das Bein presste, um die Blutung zu stoppen. Als sie die Augen öffnete, sah sie Tönnes’ fassungsloses Gesicht. Sein Blick wanderte zwischen ihr und etwas, das sich
hinter
ihr befand, hin und her … Mühsam sah sie sich um – und sah einen ihrer Männer mit einer Oberschenkelwunde am Boden liegen. Sie warf einen schnellen Blick auf ihr eigenes Bein – nichts! Mit der Erkenntnis verschwand der Schmerz von einem Augenblick auf den anderen. Sie sah noch einmal zu Tönnes, ihre Blicke trafen sich. Sie sah den Kampf in seinen Augen, den Kampf zwischen Erkenntnis und rationaler Vernunft, brach den Blick ab, tastete nach dem pochenden Schmerz in ihrer Brust, der ihr verblieben war. In ihrer Winterjacke war ein Loch, knapp unter der Brusttasche, stummer Zeuge dafür, dass sie doch getroffen worden war, doch als sie hineingriff, fanden ihre Finger anstelle von Blut das glühendheiße Metall des Projektils, das noch immer in ihrer Kevlarweste steckte. In ihrer Ausbildung hatte man ihr versichert, die Westen konnten das Kaliber der AK-47 stoppen – es schien tatsächlich wahr zu sein!
Nun, da sich in ihr die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass sie weder tot noch verwundet war, drangen plötzlich wieder andere Sinneswahrnehmungen auf sie ein. Der Verwundete – Kowalsek, Tönnes’ MG-Schütze – lag schreiend am Boden. Er wälzte sich hin und her, ohne dabei sein rechtes Bein vom Platz zu bewegen. Um den
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