Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenkrieg

Schattenkrieg

Titel: Schattenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Saumweber
Vom Netzwerk:
zu denken, ohne mit ihnen zu
fühlen
? Wie kannst du nur so
kalt
sein, Keelin?«
    »Lass mich sofort runter!«, befahl sie mit eisiger Stimme, nur mühsam Zorn und Panik zurückhaltend. Ihre Ahnen hatten aufgebrüllt in dem Moment, in dem er sie gepackt hatte, schrien und tobten nun in ihrem Kopf, forderten eine Bestrafung, forderten
Blut
dafür, dass er – ein Mann! – ihr so nahe gekommen war und sie dabei auch noch
festhielt
!
    Brynndrech starrte sie an, als ob er in diesem Moment erst erkannte, was er da eigentlich tat. Sie konnte zusehen, wie die Aggression aus seinem Gesicht wich. Er ließ sie los; zwei regungslose Augenblicke später sank er zu Boden, umschloss die Knie mit den Armen, versenkte den Kopf dazwischen und begann, bitterlich zu weinen. Seine Hand hielt erneut den Dolch, jetzt schmutzig und verdreckt.
    Keelin kämpfte, nach außen hin völlig regungslos, den Ansturm ihrer Ahnen zurück. Es dauerte lange Momente, bis sie sie zum Schweigen gebracht hatte, und noch länger, bis ihre Atmung und ihr Herzschlag wieder zur Ruhe gekommen waren. Und das alles hatte sie
ihm
zu verdanken! In diesem Moment verabscheute sie ihn, den missgeborenen, buckligen, durch seine vielen Muskeln so brutal wirkenden Waliser, der solche Schwierigkeiten damit hatte, in seiner Welt zurechtzukommen. Tief in sich wusste Keelin, dass sie ihm ähnlicher war, als sie bisher vermutet hatte, doch daran wollte sie im Moment nicht denken. Sie wandte sich ab; sie hatte schließlich noch eine Aufgabe zu erfüllen.
     
    Eine Viertelstunde lang gelang es ihr, nicht an Brynndrech zu denken; dann unterlag sie schließlich ihrem schlechten Gewissen. Wie tief saß seine Verzweiflung? Wie stark war die Einsamkeit, die er jetzt in diesem Moment wohl empfand? Keelin beschloss, zurückzugehen und nach ihm zu suchen.
    Sie fand ihn dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Er saß immer noch am Boden, doch zumindest hatte er aufgehört zu weinen. Stattdessen starrte er wieder den Dolch an. Ihr fiel auf, dass er die Klinge vom Schmutz befreit und sauber gewischt hatte. Ganz langsam beschlich sie eine Ahnung, warum er so fasziniert von der Waffe war.
    Erneut sah sie sich vor das Problem gestellt, nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Erneut fiel ihr nichts Passendes ein. »Geht’s wieder?«, begann sie schließlich, um nicht völlig stumm dazustehen.
    Der Waliser sah kurz zu ihr auf, ohne zu antworten.
    Keelin fühlte sich völlig überfordert von der Situation. »Hör mal, Brynndrech …« Er sah erneut auf. »Ich habe noch zu tun, ich muss weiter. Und du solltest auch nicht den ganzen Tag hier sitzen bleiben. Ich bin mir sicher, dass du dich bei irgendjemandem zurückmelden solltest, meinst du nicht?«
    Er nickte. »Später.«
    »Gut. Dann … mach ich jetzt weiter, ja?«
    Brynndrech zuckte nur mit den Schultern, den Blick nicht von der Klinge abwendend.
    Sie seufzte, zögerte. Schließlich fand sie den Mut und sagte: »Vielleicht wäre es besser, wenn ich den Dolch mitnehmen würde.« Keine Reaktion. Etwas lauter meinte sie: »Brynndrech … gibst du mir den Dolch?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Bitte … ich fände es wirklich gut, wenn –«
    »Hör auf!«, zischte Brynndrech, unter seinen verschwitzten Dreadlocks zu ihr aufblickend. »Ich gebe ihn nicht her, und wenn du noch so sehr darum bittest! Und jetzt geh und tu, was du fürrichtig hältst! Ich mache dir keine Vorschriften und keine Vorwürfe mehr! Aber du musst mir schon das Gleiche zugestehen!«
    Die plötzliche Entschlossenheit in seiner Stimme erschreckte sie, machte ihr Angst. Nur zögernd wandte sie sich ab. »Wir sehen uns später«, sagte sie, leise zwar, aber so, dass er es trotzdem hören musste. Als er nichts darauf erwiderte, ging sie kopfschüttelnd und mit einem dumpfen Gefühl der Verzweiflung davon.
    Sei – kein – Narr!
beschwor sie ihn in Gedanken.

BATURIX
     
    Niemandsland östlich von Bergen, Norwegen
    Montag, 05. April 1999
    Die Innenwelt
     
     
    Das Tal, das am Morgen noch beinahe klar gewesen war, war inzwischen wieder in dickem, dunklem Nebel versunken. Baturix vermutete, dass sich ihr walisischer Führer mehr auf seine Ohren verließ als auf seine Augen, um ihr Feldlager zu finden. Das Schlagen der Holzfälleräxte war weithin zu hören; inzwischen waren sie nahe genug gekommen, um auch den Gesang zu hören. Es war ein ernstes Lied, von tiefen, klaren Männerstimmen gesungen – keineswegs das Grölen ungeübter Soldaten, sondern der genaue, vielstimmige

Weitere Kostenlose Bücher