Schattenkrieg
unterwerfen, auch nicht, um eine solche Würde anzunehmen.«
»Dann heißt unser Mann Cintorix.« Die Stimme des Häuptlings klang fest entschlossen. »Du solltest so bald wie möglich aufbrechen, um mit ihm zu sprechen. Anschließend musst du auch zu den anderen Stämmen reisen, deren Stimmen wir benötigen.«
Ronan neigte seinen Kopf. »Jawohl, Herr.«
Er wandte sich schon ab, zu gehen, doch Nerin griff nach seinem Arm und hielt ihn fest. »Die Geister sind in Aufruhr!«, flüsterte der Häuptling. »Unterschätze nicht diesen Auftrag!«
»Habt Ihr etwas gesehen?« Ronan kniff die Augen zusammen. Nerin hatte Kontakt zu mächtigen Geistern, man munkelte sogar, dass er schon Avataren der Götter begegnet war. Seine Visionen hatten sich noch nie als falsch herausgestellt.
»Ja. Diesem Land steht eine gewaltige Prüfung bevor. Ich habe …« Nerins Blick ging ins Leere, als ihn die Erinnerung überkam. »Ich habe großes Elend gesehen. Schlechte Zeiten kommen auf uns zu.
Böse
Zeiten. Die Nain sind stärker, als wir bisher vermuteten.« Dann blickte er Ronan fest in die Augen. »Ich habe einen Helvetier an der Spitze unseres Volkes gesehen, Ronan. Ich sehe ihn als Sieger einer großen Schlacht! Die Helvetier werden das Schicksal der Kelten bestimmen. Die Vision
braucht
einen Helvetier, um sich zu erfüllen!«
»Ich werde mein Bestes tun, Herr. Verlasst Euch darauf.«
»Gut, Ronan. Ich weiß, dass ich auf dich zählen kann.« Als er ihn losließ, fügte Nerin noch hinzu: »Ach, und nimm Briand mit. In diesen unsicheren Zeiten sollte kein Druide alleine reisen. Außerdem wird es Zeit für ihn, Leute kennenzulernen.«
Ronan nickte fröstelnd. Nerins Vision hatte ihm mehr Angst eingejagt als alle Warnungen seines Bruders zusammen. Wenn die Götter es für nötig hielten, ihnen solch direkte Warnungen zu schicken, standen dem Stamm der Kelten große Prüfungen bevor. Schweren Herzens ging er nach Hause. Es waren Vorbereitungen zu treffen.
KEELIN
Inverness, Schottland
Montag, 02. November 1998
Die Außenwelt
Keelin schlummerte im Halbschlaf vor sich hin. Ihre Bettdecke fühlte sich merkwürdig schwer an. Die Luft roch ein bisschen nach Moder und Schimmel. Von irgendwoher drang ein tropfendes, regelmäßiges Geräusch zu ihr. Sie hörte leises Stimmgemurmel. Stimmen, die sie nicht kannte.
Es dauerte lange, bis sie in ihrem Dämmerzustand die einzelnen Informationen zusammengefügt hatte und sie schließlich realisierte, dass sie nicht zu Hause war. Die Erkenntnis ließ sie aufschrecken. Sie fühlte sich zerschlagen und erschöpft. Die Erinnerungen an die letzten Tage waren ein wirres Durcheinander. Es fiel ihr schwer, die Träume von dem tatsächlich Geschehenen zu trennen.
Nach und nach brachte sie das Erlebte in eine mehr oder weniger klare zeitliche Ordnung. Der nächtliche Traum vom Tal, die Begegnung mit Fiona, dann das Erwachen und das
Ding
in ihrer Wohnung. Sie dachte an Mary und fragte sich, ob ihre Mitbewohnerin wirklich tot war.
Sie erschrak über sich selbst, wie sie so analytisch, so
emotionslos
darüber nachdenken konnte. Die Erinnerungen fühlten sich
fremd
an, als ob sie sie gar nichts angingen. Und das war nicht gut. Begann so ein Belastungssyndrom? Oder war das ein Verdrängungsmechanismus? War es überhaupt
möglich,
eine solche Menge an Ereignissen auszublenden und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre?
Vermutlich nicht.
Ihr Leben hatte sich mit dem gestrigen Tag so drastisch verändert, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Sie beschloss, dass es nicht half, sich davor im Bett zu verstecken.
Sie öffnete die Augen und sah sich um. Sie befand sich in einem fremden Bett in einem fremden Zimmer. Es musste sich um einen Kellerraum handeln: An seiner Decke verliefen beschlagene Rohre, das einzige Fenster war niedrig, breit und lag direkt unter der Zimmerdecke. Es war vergittert. Es gab keine Tür, der Raum wurde nur durch einen Vorhang abgetrennt. Die Stimmen kamen von dort.
Keelin schälte sich aus ihren Decken und begann, sich anzuziehen. Die Kleidung, die auf einem Stuhl neben dem Bett lag, sah frisch aus und gehörte ihr nicht. Bevor sie abgenommen hatte, hätte sie ihr vielleicht gepasst, jetzt war ihr alles eine Nummer zu groß. Ihre Stiefel fehlten; stattdessen stand ein Paar Filzpantoffeln neben dem Bett. Sie schlüpfte hinein. Von der Pistole fehlte natürlich ebenfalls jede Spur.
Bis auf die Pantoffeln trug sie nun Schwarz – beinahe fühlte sie sich schon
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