Schattenlord 1 - Gestrandet in der Anderswelt
Flucht vor Jägern, dann verirrt in der Wüste?
Mach dich nicht verrückt.
Die Wüste war um sie, es gab keinen Grund zur Sorge. Hier wurde alles auf ein vernünftiges Maß reduziert.
Rita überlegte, ob sie Fotos machen sollte, entschied sich aber dagegen. Vielleicht konnte sie das GPS-Signal doch irgendwo empfangen; also musste sie Batteriekapazität sparen.
Es wurde kühler, als sie hinabschritt, und feuchter. Kein Gestank.
Und trotzdem kein Wasser.
Erstaunt stand Rita vor einem Treppenabgang, groß und breit. Der Schlund, in den die Treppe hinabführte, hatte den mächtigen, weithin sichtbaren dunklen Fleck in die Wüstenei gezeichnet.
»Das ist verrückt«, stieß Rita hervor. »Mitten in einer leblosen Wüste, wer baut so etwas? Wie alt ist dieses Ding?«
Die Fliegen kreisten, doch sie schienen selbst nicht zu wissen, worum. Wovon mochten sie sich ernähren?
»Äh … hallo?« Rita beugte sich über den Rand des Schlunds und lauschte dem zittrigen Klang des Echos. »Ist da jemand? Können Sie mich hören? Wahrscheinlich können Sie mich nicht verstehen, aber … vielleicht sind Sie ja neugierig und kommen herauf …«
Sie machte eine Pause. Nichts geschah, nichts regte sich dort unten. Vorsichtig wagte Rita sich eine Stufe hinab, dann eine zweite. Das konnte nicht schaden, das Licht reichte noch.
Sie rief nochmals, während sie weitere Stufen hinabstieg. Es half nichts, sie musste aus dem Licht heraus, sonst konnte sie nie erkennen, was da unten war.
Rita bückte sich unwillkürlich; sie bemerkte gar nicht, dass sie in die Dunkelheit eintauchte. Nach einer Weile gewöhnten ihre Augen sich an das Zwielicht.
Die Treppe führte hinab und hinab; Rita konnte nicht erkennen, wie tief. Doch es mussten viele Stufen sein. Das war grotesk, absurd. Sie träumte.
Rita griff nach ihrem Handgelenk und fühlte nach dem Puls. War es der Schock, der ihr Halluzinationen bescherte? War sie gar nicht so stabil, wie sie geglaubt hatte? Aber nein, ihr Puls war beschleunigt, jedoch nicht besorgniserregend. Dass er etwas schneller ging, war nicht ungewöhnlich nach allem, was sie hier entdeckt hatte.
Ihre Zunge fuhr über die Lippen, sie ertastete einen metallischen Geschmack, ein bisschen Rost, also Eisen, und Kupfer und Schimmel. Gab es etwa eine Zisterne da unten, vor sehr langer Zeit nutzbar gemacht, doch inzwischen verlassen?
Geh nicht in den Keller.
Das war kein Keller, und sie war kein Kind mehr. Nein, sie ließ sich nicht von der Dunkelheit erschrecken. Das war vorbei. Es gab Regeln, nicht wahr? Daran hielt sie sich seit zwanzig Jahren. Und das hatte bis jetzt gut funktioniert.
Sie könnte natürlich auch zurückgehen und morgen mit Verstärkung wiederkommen. Das war vermutlich die vernünftigste Entscheidung, denn selbst wenn sie dort unten die Zisterne vorfand, könnte sie gar nicht genug Wasser mitnehmen.
Aber die Flaschen füllen und vor allem selbst eine Menge trinken und sich waschen, die lichtlose eisige Kälte des jahrhunderte- oder jahrtausendealten Wassers auf ihrer erhitzten, trockenen Haut spüren …
Das war sehr verlockend, aber es bedeutete auch: dort hinuntergehen, noch tiefer hinab in den Schlund, wo der weit geöffnete Rachen des Ungeheuers auf sie wartete.
Eines Tages musste es dazu kommen, sie hatte es immer gewusst. Je weiter sie hinabstieg, desto mehr bröckelte die Fassade von ihr ab. Nur noch ein zitterndes, kaum mehr als Mensch kenntliches Bündel blieb übrig, das ans Licht zurückgeholt wurde, aber dieses Licht niemals wieder wirklich sehen und fühlen konnte. Alles, was danach gekommen war, war aufgesetzt gewesen wie eine Hülle, die man um sich legte, um sich vor anderen zu verbergen, und dann noch eine und noch eine. Jede weitere Hülle sorgte dafür, sich der Normalität anzunähern, man fühlte scheinbar und lachte und nahm am Leben teil, schien mittendrin und wurde bewundert für seine unglaubliche Stärke.
Alles Lüge. Keine Stärke war es, sondern Lüge. Eine Farce. Ein Scheinleben. In Wirklichkeit lag der zerbrochene kleine Körper samt seiner zerbrochenen kleinen Seele immer noch da unten in der Dunkelheit, nicht tot und nicht lebendig, wie ein Zombie. Was man heraufgeholt hatte, vermochte Rita heute nicht mehr zu sagen. Eine Erinnerung vielleicht.
Jetzt erkannte sie, dass sie die ganze Zeit nur auf der Suche gewesen war, ein Schatten auf der Suche nach dem Körper, zu dem er gehörte. So lange war sie umhergeirrt, doch jetzt … war sie am Ziel. Jetzt kehrte sie
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