Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
das Gesicht. Sie fühlte sich sehr erschöpft. Ihr Magen hatte sich beruhigt, aber nun machte sich umso mehr Müdigkeit breit.
»Die Weidegründe Innistìrs sind groß. Und ich erfahre eine Menge durch die Seelen, die ich mir einverleibe. Manchmal ist es, als wäre ich selbst dabei, vor allem, wenn sie ganz frisch gestorben sind. Es gibt Seelen hier an Bord, die ich nur noch für harte Notfälle aufhebe, weil sie außer ein wenig Nährwert nichts mehr zu bieten haben. Deswegen werde ich deine Seele umso mehr genießen, da ich sie dir selbst entziehe, Stück um Stück ...«
Grauen erfasste Laura. Sie zweifelte nicht an Fokkes Worten.
Grauen ... Das brachte sie auf eine andere Idee.
»Der Schattenlord wird es nicht zulassen«, wisperte sie. »Er betrachtet mich als sein Eigentum. Er wird kommen und mich befreien.«
Fokkes Haltung änderte sich. Es gefiel ihm nicht, was sie sagte. Denn der Schattenlord war ein Faktor, den er nicht einschätzen konnte.
»Das wird ihm nicht gelingen«, behauptete er. »Noch niemandem ist es gelungen, das Schiff zu überwinden.«
»Er ist nicht irgendwer.« Laura fühlte ihre Kräfte zurückkehren, in dem Maße, wie Fokkes finstere Aura von ihr wich. »Du hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast. Wenn überhaupt, kann er mit einem Gott verglichen werden.«
»Ach ja? Was veranlasst dich zu einer solchen Mutmaßung?« Sein Tonfall nahm wieder einen spöttischen Klang an. »Gibt es dafür irgendwelche Beweise?«
»Er wird sie dir selbst liefern.«
Der Kapitän breitete die Arme aus und drehte sich leicht. »Nun, warum ist er dann nicht hier? Du bist in meiner Gewalt, das will er nicht – also worauf wartet er?«
Laura musste nachdenken. Es fiel ihr schwer, doch sie musste bei der Sache bleiben. »Er wartet auf den geeigneten Moment.« Langsam hob sie die Augen und richtete den Blick auf ihn. »Er wird nicht einfach nur kommen und mich befreien. Er wird dich vernichten .«
Barend Fokke winkte in einer verärgerten Geste ab. »Das ist unmöglich, närrisches Ding. Ich kann nicht vernichtet werden. Der Fluch ist unauflöslich.«
»Nichts ist unauflöslich«, versetzte Laura kühn. »Gegen jedes Mittel gibt es ein Gegenmittel. Und mag derjenige, der dich verflucht hat, auch schon lange dahingegangen sein – einen ewigen Bestand gibt es dennoch nicht.«
»Was verstehst du von diesen Dingen?«, fuhr er sie wütend an. »Du bist ein unwissender, nichtsnutziger kleiner Mensch!«
»So wie du.« Sie zog den Kopf zwischen den Schultern ein, steckte aber nicht zurück.
»Ich nicht!«, schrie er. »Ich bin einzigartig, meine Menschlichkeit ging mit meiner Seele verloren!«
»Und wo ist deine Seele? Wer hat sie?« War das etwa die Lösung? Konnte er angegriffen werden, indem seine Seele gefunden und ihm wieder zugeführt wurde?
»Niemand! Sie ist vernichtet, verloren auf immer. Mein Fluch ist nun meine Seele! Mein Fluch, das bin ich. Kein Schattenlord kann mir etwas anhaben!«
Laura konnte ihm keine Angst einjagen. Ein unsterbliches und verfluchtes Wesen wie Fokke brauchte nichts mehr zu fürchten. Aber er konnte verunsichert und in Wut gebracht werden, und dabei würde sie nicht so leicht lockerlassen.
Vor allem, weil es für sie selbst ein gewisser Trost war. Zuerst war es nur so eine Idee gewesen, aber nun war Laura überzeugt davon, dass der Schattenlord früher oder später eingreifen würde. Er hatte oft genug deutlich gemacht, dass er Laura als sein Eigentum betrachtete und nicht von ihr lassen würde. Also würde er keinesfalls zulassen, dass ihr etwas Ernsthaftes geschah – wie etwa der Tod und die Zerstörung ihrer Seele. Sicher trat er erst im allerletzten Moment auf, denn vorher gab es für ihn keinen Grund, dazwischenzugehen. Außerdem hatte der Schattenlord gerade genug damit zu tun, Cuan Bé zu halten und die Gog/Magog anzuführen. Aber Laura war überzeugt, dass er sie nicht aus den Augen verloren hatte und über sie wachte.
»Er kann es«, widersprach sie und fing sich dafür eine Ohrfeige ein, dass ihr Kopf zur Seite ruckte und sie ihr Genick vernehmlich knacken hörte. Ihre Wange brannte höllisch, in ihrem Kopf summte und brummte ein Hornissenschwarm, und Tränen des Schmerzes schossen aus ihren Augen. Doch sie kicherte, denn es war ihr endlich gelungen, Fokke aus der Reserve zu locken. Das stürzte ihn vom Podest und stellte sie beide auf eine annähernd gleiche Ebene. Nicht ganz natürlich. Sie würde keineswegs den Fehler begehen, das Scheusal zu
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