Schattenlord 2 - Stadt der goldenen Türme
mit deren Hilfe sie einen Toten immer und immer wieder erwecken kann. Aber du wirst nichts spüren. Die Gute Mutter hat allen meinen älteren Brüdern und Schwestern ihr Schicksal erleichtert ...«
»Allen deinen Brüdern und Schwestern?«, hakte Finn entsetzt nach.
»Dort, wo ich geboren wurde, gibt's noch mehr von uns«, sagte der Gnom mit einem verzerrten Lächeln. »Ich bin der Majordomus des hiesigen Haushalts. Ich heiße übrigens Brisly, und wenn du einem Kleinwüchsigen wie mir in diesen Räumlichkeiten begegnest, handelt es sich unter Garantie um eines meiner jüngeren Geschwister.« Er zupfte an einem Warzengeflecht, das seine rechte Wange fast zur Gänze bedeckte. »Zugegeben: Sie sind nicht ganz so attraktiv wie ich, aber wir stammen dennoch von derselben Mutter ab. Bei meinem Vater bin ich mir allerdings nicht so sicher ... Wie auch. Nach der achtzigsten oder hundertsten Geburt ist man gewiss froh, einmal etwas anderes hervorzupressen als schwarzhäutige und rotäugige Fnarze, und erst recht nach der fünfhundertsten.«
»Fünfhundert?!«
»Ich glaube nicht, dass dieses Jubiläum ein Anlass für ein Freudenfest im Hause meiner Mutter war. Wahrscheinlich hat sie auch längst die Übersicht über uns Bälger verloren. Manchmal kann sie sich nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern.« Brisly ließ die Nase traurig hängen und schniefte. »Dabei hat sie sich konsequenterweise und nach guter Gnomensitte an den Namensratgeber für die viel beschäftigte Frau gehalten. Aalchen, Aberhand, Abraxa, Absymed, Achsim, Achsomne der Stinkige ...«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach Finn den Wortschwall des plötzlich so redseligen Gnomen. »Ich bedau... ich bewundere deine Frau Mutter zutiefst, und ich würde gern mehr über deinen Familienstammbaum hören. Aber ich bin müde. Ich habe das Gefühl, dass mich die Dame morgen wieder gehörig in Anspruch nehmen wird.«
»So ist es.« Brisly verbeugte sich vor ihm. »Verzeih mir meine Unhöflichkeit. Iss und sieh zu, dass du so viel Schlaf wie möglich bekommst. Und wie gesagt: Sei drauf gefasst, Gystias Wünsche zu jeder Tages- und Nachtzeit erfüllen zu müssen.«
Finn gähnte und winkte dem Gnomen hinterher. Er bediente sich an den bereitstehenden kandierten Früchten und den nussähnlichen Scheibchen, die von einer Käseschicht überzogen waren, bevor er sich völlig ermattet auf sein Lager sinken ließ.
Er dachte an Gina. An die anderen Menschen, die auf dem Markt verkauft worden waren. Daran, dass er sie alle als seine Schutzbefohlenen betrachtete. Er musste Pläne schmieden. Musste so rasch wie möglich ihre »Besitzer« ausfindig machen und sie befreien. Es gab so viel zu tun ...
10
Die
Zusammenkunft
S ternlose Dunkelheit. Stille, die gelegentlich von einem heiseren Krächzen unterbrochen wurde. Die Menschen ringsum schliefen.
Laura fand keine Ruhe. Sie ließ den Tag passieren und dachte an die vielen neuen Eindrücke, die sie gewonnen hatte. Und an die wenigen Dinge, die sie bewältigt hatten.
Der junge Luca Müller wälzte sich unruhig hin und her; immer wieder stieß er gegen seine Schwester oder den Vater, die ihn in die Mitte genommen hatten. Angela Müller indes saß an Wolfs Pflegelager. Sie war zusammengesunken; sobald der Schwerverletzte ächzte oder seufzte, schreckte sie hoch, wischte ihm Schweiß von der Stirn, drückte ihm Wasser vom Zipfel eines Tuchs in den Mund oder drückte seine Hand, um dann wieder wegzunicken.
Was hielt Laura wach? Warum fanden die anderen Menschen zu einem einigermaßen ruhigen Schlaf und sie nicht?
Ein Geräusch. Ein Pfeifen ertönte, wie sie es niemals zuvor vernommen hatte.
Ein seltsamer Nebel überzog den Sandsegler, und mit ihm kam Bewegung in einige Gestalten. Lauras Sinneseindrücke verzerrten sich, so als blickte sie durch eine beschlagene Fensterscheibe und wäre gleichzeitig in Watte gepackt. Laura hätte nicht zu sagen vermocht, wer von den Menschen sich bewegte und sich aus dem Lager entfernte ...
Fünf! Es waren wiederum fünf Menschen, die sich absonderten und, wie an einer Perlenschnur aufgereiht, einem nahe gelegenen Sandhügel zustrebten. Laura erhob sich. Es fiel ihr schwer. Die Beine wollten ihr kaum gehorchen; doch irgendwie schaffte sie es.
Sie achtete tunlichst darauf, niemanden zu wecken. Auch Zoe und Milt nicht. Es erschien ihr unangemessen und falsch, sie in dieses Verfolgungsspiel mit einzubeziehen.
Keiner der fünf drehte sich zu ihr um. Die Menschen - waren es wirklich
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