Schattenlord 2 - Stadt der goldenen Türme
zentimeterlangen Armzangen in ihre Richtung drohte und die scharfen Werkzeuge laut aufeinanderklappern ließ.
Laura sprang erschrocken auf, wischte den Sand ab und begab sich nun selbst auf den Weg zurück zum Lager. Sie wählte einen Umweg, der sie aus der gegenüberliegenden Richtung zum Sandsegler zurückkehren ließ. Sie bemühte ihr Gedächtnis, um sich der vielen Tret- und Stolperfallen zu erinnern, die Jack und Cedric ausgelegt hatten.
Der Schattenlord ... Wer war er? Was war er? Über welche unheimlichen Kräfte verfügte er, wenn sich sogar diese fünf so überaus mächtig wirkenden Wesen fürchteten und getarnt in menschlicher Gesellschaft reisten?
Hatte der Schattenlord etwas mit dem dunklen Gebilde zu tun, das sie vor einigen Tagen beim Aufbruch weit entfernt am Himmel entdeckt und das Najid als Seelenfänger bezeichnet hatte? War diese Erscheinung mit dem Schattenlord gleichzusetzen?
Völlig entgegen ihrer Neigung zu Ungeschicklichkeiten erreichte Laura den Sandsegler unbeschadet und unbemerkt. Vorsichtig trat sie auf die Holzplanken, um kein Geräusch zu verursachen, und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Schlafplatz. Ringsum war alles ruhig; sie hörte das regelmäßige Atmen der etwa zwei Dutzend Menschen - und Wolfs schweres Seufzen.
Die fünf Maskierten sind nicht viel besser dran als wir, dachte sie mit einer gewissen Häme. Sie tapsen im Dunkeln. Sie wissen weder, wer ihr Auftraggeber ist, noch haben sie eine Ahnung, wie sie mit ihm Kontakt aufnehmen sollen, nachdem Innistìrs Grenzen dicht sind. Sie mögen Macht besitzen, die weit über unser Vorstellungsvermögen hinausgeht. Aber auch sie haben ihre Grenzen - und sie leiden darunter.
Laura überlegte es sich anders. Sie stieg über die schlafende Zoe hinweg und ging hinüber zu Wolf und Angela Müller. Sanft berührte sie deren Schulter.
»Was ist ...?« Die Frau schreckte hoch, sah sich um, atmete tief durch, als sie Laura erkannte, und schenkte ihr ein schmales Lächeln. Ihr nächster Gedanke galt Wolf. Sie streichelte dem Afroamerikaner über die schmalen, eingefallenen Wangen und benetzte seine Lippen mit Wasser. Er drehte sich beiseite, im fiebrigen Wahn, und wich ihren Berührungen aus.
»Wenn er die heutige Nacht übersteht, sehe ich gute Chancen für ihn«, sagte Angela. »Die Fieberschübe haben ihren Höhepunkt überschritten. Seine Temperatur fällt allmählich wieder. Womöglich sind die inneren Verletzungen doch nicht so schlimm, wie wir befürchtet haben.«
»Womöglich ...«
Laura bewunderte die Zähigkeit, mit der die Frau um das Leben des Schiffbauers kämpfte. Sie tat es, als würde eine Löwin ihr eigenes Junges verteidigen. Es war mehr als eine Geste oder bloße Menschenliebe. Sie zahlte dem Verletzten doppelt und dreifach zurück, was er für ihre Tochter getan hatte.
»Du solltest dich ein wenig niederlegen«, sagte Laura. »Ich passe auf ihn auf und wecke dich in zwei Stunden.«
»Nein!«, rief Angela so laut, dass ringsum mehrere Menschen hochschreckten, sich orientierungslos umblickten und erst, als sie verstanden, dass keine Gefahr drohte, wieder in tiefen Schlaf versanken. »Nein!«, wiederholte Angela Müller dann leise. »Es ist meine Pflicht, auf ihn achtzugeben. Meine Aufgabe.«
»Ich verstehe.« Laura sah ein, dass sie hier nichts ausrichten konnte. Jedes Mitglied der kleinen Gruppe entwickelte seine eigene Methode, mit den Schrecknissen dieser seltsame Reise umzugehen. »Dann gute Nacht.«
Sie drehte sich um, schlich zu ihrem Schlafplatz zurück und kuschelte sich unter die behelfsmäßige Decke. Die Feuer in ihrer Nähe bauschten sich mit einem Mal auf; eine Windböe fuhr durch den sonst so gut geschützten Schlafplatz. Ein Wärmeschwall fauchte über Laura hinweg, und für eine Weile sah sie dem rotgelben Funkenflug zu, der zumindest für ein paar Sekunden Sterne in den Nachthimmel zeichnete.
Lauras Gedanken und Eindrücke verwirrten sich. Hier auf Innistìr geschah so viel. Jeden Tag begegneten sie Wundern und Abenteuern, von denen andere Menschen ein ganzes Leben lang zehren würden.
Es ist irgendwie schön, Angst zu haben , dachte sie sich. Es bedeutet, dass man wahrhaftig lebt und nicht nur vor sich hin dämmert, gefangen in einem langweiligen Job oder in einer lieblosen Beziehung, an die man sich über die Jahre gewöhnt hat.
Seltsam. Sie wälzte Gedanken, die ihr niemals zuvor gekommen waren. Vergreiste sie etwa vorzeitig, noch bevor sie das zweiundzwanzigste Lebensjahr vollendet
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