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Schattenlord 2 - Stadt der goldenen Türme

Titel: Schattenlord 2 - Stadt der goldenen Türme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marcus Thurner
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erfunden wurden. An das Gaeltacht.
    An die Heimat.
    »Das ist es«, flüsterte er andachtsvoll, tastete mit zittrigen Fingern nach einem Kupferbecher und goss sich einen Fingerbreit hoch ein.
    Finn traute sich kaum, daran zu nippen. Zu intensiv waren mit einem Mal die Erinnerungen, zu schmerzhaft. Nur zu gern wäre er nun zu Hause, im Kreis der Familie, oder auf den Straßen Belfasts, um die Straßen unsicher zu machen.
    »Es schmeckt dir, Menschenware?«
    Finn tunkte vorsichtig die Zunge ein, schloss die Augen und genoss. Er vergaß die abfällige Behandlung, die er hier erfuhr. Es kümmerte ihn nicht mehr, dass er ein Sklave dieser Frau und dieser Stadt war. Von diesem Getränk zu kosten wog alles, wirklich alles auf.
    »Danke«, flüsterte er andächtig. »Ich habe niemals zuvor etwas derart Wohlschmeckendes getrunken.«
    Gystia stieg aus dem Wasser. Ihr nackter, athletischer Körper stand in krassem Gegensatz zum Anblick all der anderen Städter, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte. Sie trat nahe an ihn heran. Finn blickte sie bewundernd an. Die weiche, von einem seltsamen Ölschimmer überzogene Haut, die feinen Härchen an den Hüften, das helle Federgestrüpp, das ihre Scham bedeckte und ihre Fremdartigkeit am deutlichsten zum Vorschein brachte.
    »Mag schon sein«, sagte sie. »Es ist ein besonderes Getränk.« Ein Geschöpf, so groß wie ein Baby, flatterte auf sie zu und hielt ihr einen flauschigen Bademantel hin, in den sie schlüpfte. »Doch nun ist es an der Zeit, dass du mir beweist, was du wert bist, Mensch. Ich möchte, dass du mich zum Träumen bringst und meine träge gewordene Fantasie anregst.« Sie ließ sich auf ein Sofa ihm gegenüber plumpsen, während die beiden Gnomen bereits wieder an der Kurbel drehten, um das Schwimmbad abzudecken. »Erzähl mir aus deiner Heimat. Schenk mir Geschichten.« Ihre Stimme, die bislang sehnsüchtig geklungen hatte, wandelte sich mit einem Mal. »Und wag es nicht, mich zu enttäuschen.«
    Ein Blick traf ihn, kühl und abschätzend und bösartig. Finn ahnte, dass er sich keinen Fehler erlauben durfte.
    »Was möchtest du hören?«
    »Lügengeschichten, wahre Erzählungen, Märchen - was immer du möchtest!«
    Die Dame Gystia saß angespannt da, nervös vornübergebeugt, vielleicht zwei Meter von ihm entfernt. Finn war ihr so nahe wie nie zuvor. Sie roch nach Rosenöl und nach Algen. Die Lippen bebten. Sie spreizte ihre Beine, sodass er das helle und feste Fleisch ihrer Oberschenkel sehen konnte, und sie strahlte etwas aus, was er als ... als Geilheit erfasste.
    »Ich erzähle dir von unerfüllter Liebe«, sagte Finn nach kurzem Nachdenken. »Das Gedicht heißt On Raglan Road, und es wird zu der Musik eines älteren Volkslieds namens Fáinne Geal an Lae gesungen ...« Er räusperte sich und nahm einen weiteren, winzigen Schluck von diesem Getränk, das kein Whiskey war und dennoch wie einer schmeckte, bevor er den Takt selbst mit dem rechten Fuß vorgab und sich an den Text zu erinnern versuchte.
    Seine Stimme war gut, doch er hatte sie lange Zeit brachliegen lassen. Zu viele Zigaretten und auch einige Drinks zu viel hatten sie verändert. Sie klang nun tiefer und rauchiger als in seinen jungen Jahren.
    »On Raglan Road« ... Es war ein zutiefst melancholisches Lied, das der irischen Seele so sehr entsprach. Das von einem einsamen Wanderer erzählte, der eine kalte, dunkle Straße entlangschlenderte und über die Sehnsucht nach einer unerreichbaren Frau schwadronierte.
    Das Gedicht war von einem der Heroen irischer Literatur verfasst worden, von Pádraigh Caomhánach, und von einem gewissen Luke Kelly arrangiert worden. Luke Kelly, einem der Gründerväter der Dubliners, die in den Tanzsälen Belfasts oft und oft Station gemacht hatten. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass die bestbekannte irische Folk-Band in ihren frühen Jahren durchaus kritische politische Kommentare in der geteilten Stadt abgegeben und Schwierigkeiten mit den Autoritäten bekommen hatte ...
    Die Worte kamen wie von selbst, und seine Stimme fand zu einer Klarheit, die ihn selbst überraschte. Er litt mit dem Helden der Erzählung, er weinte mit ihm, er nahm Anteil an seiner Trauer, als er letztendlich zur Brücke am Ende der Straße kam und einen letzten gedanklichen Abschiedsgruß an seine Geliebte abschickte, um dann still zu bleiben, zu verharren, im Schmerz verfangen ...
    Finn kehrte in die Wirklichkeit zurück - und blickte in Gystias Gesicht. Sie war ihm ganz nahe gekommen. Ihr Duft,

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