Schattenlord 7 - Das blaue Mal
aufmerksamer Beobachter, und er hatte sich am Vorabend äußerst misstrauisch gegeben. Wenn er sich mit dem Stadtoberen traf, würde er auf Verfolger achten. Ruairidh musste dem Löwenmähnigen um einen Schritt voraus sein. Er musste bereits am Treffpunkt auf ihn warten, musste einen triftigen Grund vorweisen können, warum er sich ausgerechnet dort herumtrieb, und er musste völlig glaubwürdig wirken, wenn er sich Leonidas näherte.
Er hatte den richtigen Mann, den richtigen Kokon in seinem Repertoire. Es bedurfte bloß ein wenig Konzentration, um ihn aus dem Schatten seines geistigen Umkleideraums hervortreten zu lassen, ihn anzukleiden und sein Verhalten zu definieren.
Er würde ... hm ... Petizza heißen. Petizza klang nach Armut. Nach Armseligkeit. Er würde nahe dem Verwaltungsbezirk der Stadtoberen als Fetttaucher arbeiten wie einige andere Bewohner Parvennes ebenso und dabei von einem Kanalgitter zum nächsten wandern, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Ja, Petizza war ein guter Name, und sein Charakter, der eben in Ruairidhs Kopf entstand, gefiel ihm zunehmend.
Petizza ließ seine Schnüre in den Kanal hängen. Er schniefte laut und wischte seine Nase am kaffeebraunen Schulterstück des zerschlissenen Hemds ab. Er hielt den Kopf weit nach vorne gebeugt. Das triste Leben am Ende der Nahrungskette hatte ihn bucklig und demütig gemacht. Er beugte den Kopf vor allen, die an ihm vorbeimarschierten, und achtete nur auf die Füße. Bloß nicht treten lassen, bloß niemandem in die Quere kommen!, dachte Petizza.
Er zog zwei der Schnüre hoch. Eine dünne Schicht, kaum wahrnehmbar, hatte sich am Garn gebildet. Fett, das aus den vielfältigsten Quellen stammte, trieb auf den Abwässern der Stadt. Mit etwas Geschick und speziell präparierten Bindfäden konnte man ein wenig davon abschöpfen, um es Schicht für Schicht trocknen zu lassen, bis ein spindelförmiges Gebilde entstand, das von den Seifenproduzenten Parvennes gerne gegen eine warme Mahlzeit oder einige Blechmünzen eingetauscht wurde.
Petizza hörte ein leises Knurren. Instinktiv zuckte er zusammen. Ein Wesen, mit dem gewiss nicht zu spaßen war, näherte sich ihm. Er nahm die Beine in die Hand und humpelte zum nächsten Kanalgitter, den Kopf eingezogen, mit zittrigen Gliedern.
Der Mann beachtete ihn nicht. Er blieb stehen, drehte sich im Kreis und wandte sich dann einer der Verkaufsbuden zu. Er verlangte ein Heißgetränk und stellte sich dann breitbeinig neben die Bude hin. Der Besitzer wollte ein Gespräch beginnen, der Mann ließ sich nicht darauf ein.
Petizza fischte weiter. Hier mündete einer der Querkanäle. Wasser aus dem Bergteil der Stadt vermengte sich mit dem des Hauptkanals. Dank der dabei entstehenden Verwirbelungen durfte er hier auf eine größere Ausbeute als anderswo hoffen; vorausgesetzt, es tauchte kein Konkurrent auf, der ihm seinen Platz streitig machte.
Wiederum musste er husten. Es ging seinem Magen nicht gut. Er hatte letzte Nacht einen oder zwei oder mehrere über den Durst getrunken. Dies rächte sich nun.
Ein zweiter Mann näherte sich. Er hatte einen schleichenden Schritt. Die Füße schoben sich sanft über den Boden. Fast war es, als schwebte er.
Petizza hob den Kopf. Bloß für den Bruchteil einer Sekunde. Es handelte sich um Cheneghy, einen der Stadtkämmerer. Jener, der schon länger wartete, war unzweifelhaft Leonidas.
Kurz blitzte die Persönlichkeit Ruairidhs hinter der Tarnung hervor. Er freute sich diebisch, dass er den Ort des Gesprächs richtig erraten hatte. Es gab nicht viele Möglichkeiten, in Parvenne unerkannt zu bleiben, und dieser riesige Platz vor dem Zugang zur Regierungsburg bot sich nachgerade an. Hier gab es bloß dösende Wachen, einige Elfen, die die Fressstände umlagerten, und weitaus weniger Gesindel, als es in der Unterstadt versammelt war. Wer hier bettelte, nach Fett tauchte oder Geldkatzen abzuschneiden trachtete, stand gewiss unter dem Schutz der hiesigen Diebesgilde.
Ruairidh zog sich zurück und überließ die Späharbeiten wieder Petizza. Der Halbelf mit dem zerwühlten Haar und dem Vorbiss senkte wieder den Kopf und setzte seine Arbeit fort. Was er hörte, blieb lediglich in seinem Unterbewusstsein haften, dort, wo Ruairidh ruhte und aufmerksam zuhörte.
»Was kannst du mir sagen?«, fragte Leonidas ohne ein Wort der Begrüßung.
»Du musst verstehen, dass meine Informationen nicht für jedermann bestimmt sind. Es war ungewöhnlich schwer, sie zu beschaffen ...«
»Wag es ja
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