Schattenlord 7 - Das blaue Mal
Trägerinnen hallten von weit entfernten Wänden wider, eine Windbö fuhr durch die Sänfte.
»Wir sind gleich da«, sagte Lirla. Sie beugte sich über eine Kiste, kramte für eine Weile darin herum und zog einen schwarzen Schleier hervor, den sie Zoe sachte aufs Haar setzte.
Zoes Blick trübte sich keinesfalls. Sie sah genauso gut wie zuvor. Weitere Zauberei. Weitere Wunder ...
»Aussteigen!«, befahl Lirla.
Sie gehorchte, ohne nachzudenken. Etwas im Befehlston der Syndicatin sagte ihr, dass sie gut daran tat, ihr rasch zu gehorchen.
Eine Trägerin öffnete den Verschlag der Sänfte, Zoe tat einen ersten Schritt ins Freie. Ihre Perspektive veränderte sich ein wenig, der Besonderheit ihres Gefährts geschuldet, das das Innere größer als die Umgebung hatte erscheinen lassen.
Der Schleier fiel ihr an der Vorderseite bis zur Brust hinab, ließ aber an der Stirn eine kleine Lücke, die das Blaue Mal erahnen ließ. Die Rückseite bedeckte er zur Gänze. Er war so leicht, dass sie sein Gewicht kaum spürte. Er schlang sich wie von selbst um ihren Leib und sorgte dafür, dass ihre körperlichen Vorzüge sichtbar blieben.
In farbenfrohe Uniformen gekleidete Elfen standen links und rechts von Zoe Spalier. Sie hoben die Köpfe ein wenig an, sobald sie sich ihnen näherte, und sahen an ihr vorbei. Manche von ihnen konnten der Versuchung nicht widerstehen; sie wagten einen Seitenblick, um die Herrscherin Dar Anuins in Augenschein zu nehmen.
Wussten diese Wächter, dass sie eine Schwindlerin war? Die Letzte einer ganzen Reihe von Betrügerinnen, die hierher verschleppt und in eine ungewollte Rolle gedrängt worden war, um das Volk der Kraterstadt zu betrügen?
»Weiter!«, flüsterte Lirla, die knapp hinter Zoe ging. »Nicht so langsam!«
Zoe empfand Angst vor der Syndicatin. Mit einem Mal meinte sie zu spüren, dass sich die Blondine hinter ihr gewandelt hatte und eine gänzlich andere Gestalt angenommen hatte. Sie gehorchte dem Befehl. Sie konnte nicht anders.
Die Elfen wichen nun zur Seite. Sie machten den Blick auf den hinteren Teil des Saales frei. Zoe gewahrte übergroße Statuen heldenhafter Krieger, die allesamt martialische Posen eingenommen hatten. Sie schienen derart lebensecht, dass Zoe den Atem anhielt und sich duckte. Sie befürchtete, dass einer der Kämpfer jetzt seinen Sockel verlassen würde, um auf sie zuzustürmen und ihr den Kopf vom Rumpf zu trennen.
»Keine Angst«, raunte Lirla ihr zu. »Sie wirken Ehrfurcht gebietend; aber sie haben ihre Plätze seit langer Zeit nicht mehr verlassen.«
Was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie dazu in der Lage sind. ... Zoe schüttelte sich. Sie mahnte sich einmal mehr, dass das Land Innistìr Ähnlichkeiten mit der Welt, die sie kannte, haben mochte, in Wirklichkeit aber ganz anders war.
Die bronzenen Krieger, acht an der Zahl, umrahmten einen einsam dastehenden Stuhl, der neben all dem Prunk wie ein schäbiges Ersatzmöbel wirkte, das jemand irrtümlich hier abgestellt hatte. Und auf dem hölzernen Sitz hatte es sich Baran bequem gemacht.
Wobei das Wort »bequem« einen Euphemismus darstellt ...
»Willkommen, Herrin!«, rief der Zeremonienmeister mit viel Pathos in der Stimme. Er mühte sich aus dem Thron und kam breitbeinig jene drei Stufen herabgetrippelt, die Zoe vom Stuhl trennte. »Du wurdest bereits sehnsüchtig erwartet.«
»Sei höflich!«, flüsterte Lirla. »Andernfalls ...«
Ja, andernfalls. Die Drohung war unüberhörbar.
»Ich danke dir«, sagte Zoe und nickte dem Zwerg zu. »Auch ich freue mich, dich wiederzusehen.«
»Du hast dich gut erholt, Herrin?«
»Es geht mir ausgezeichnet.«
»Das Volk wartet bereits ungeduldig darauf, dir huldigen zu können. Wir hoffen, dass du dich bald wieder kräftig genug fühlst, dich den Bewohnern Dar Anuins zu präsentieren.«
»Das ist auch meine Hoffnung, Baran.«
Ein Spiel. Schattenboxen. Ein Dialog, der uneingeweihte Zuhörer davon überzeugen sollte, dass sie eine Herrscherin war, die seit Ewigkeiten auf diesem Thron saß und von dort aus regierte. Womöglich von Baran, Lirla und den Priestern im Hintergrund konstruiert, um mögliche Zweifler im Volk verstummen zu lassen, die die Gesandte schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten und misstrauisch geworden waren. Die Elfenwächter würden wohl nach dem Ende ihrer Schicht bestätigen, dass sie die einzige und wahre Königin Dar Anuins zu Gesicht bekommen hatten, am Blauen Mal erkennbar.
Sie setzten das Gespräch für eine Weile fort;
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